Der Sog - Thriller
Eine Antwort in geschnitzter Form stand keinen Meter von Pritam entfernt: Er hatte einen Sohn. Doch wie war es möglich, dass sich der Schöpfer des Universums so fundamental änderte, einfach indem er in menschlicher Gestalt auf die Welt kam? Pritam hatte das Verhalten Gottes einmal in hypothetischer Form einem befreundeten Psychologen beschrieben, dessen eindeutige Diagnose auf » Persönlichkeitsspaltung« lautete. Pritam konnte das nicht akzeptieren. Hinter diesem heiligen Geheimnis musste mehr stecken. Die Notwendigkeit, seinen Gott besser zu verstehen, war zum Grund dafür geworden, warum er in der Priesterschaft geblieben war.
Pritam zog das Taschentuch fest und rollte das Hosenbein nach unten. Jemand war hinter ihm.
» Sind Sie das, John?«
Er stand auf und drehte sich um.
Die Kirche war leer, die Fenster ungelindert schwarz. Die Schatten in der Altarnische hinter der Christusfigur wirkten so massiv wie das dunkle Holz. Doch immer noch hatte Pritam das Gefühl, als beobachte ihn jemand.
» Hallo?«, rief er. Seine Stimme, die nur eine minimale Spur seiner indischen Herkunft verriet, hallte zwischen den glänzenden Kirchenbänken und versickerte in der Stille.
Sein Blick ging unwillkürlich zu der Stelle, wo der seltsame Mann während desselben Begräbnisgottesdiensts gesessen hatte. Close, war sein Name. Nicholas Close. Das war die zweite beunruhigende Sache an jenem Tag gewesen: Closes Gesichtsausdruck, als er zur Decke hinaufgeblickt hatte. Close hatte ausgesehen, als hätte ihn ein Totenschädel von dort oben angestarrt.
Pritam blickte zu der geschnitzten Decke sechs Meter über ihm. Selbst in dem matten, wenig wirksamen Licht der falschen Kerzen konnte er das von Eichenlaub umkränzte, geschnitzte Holzgesicht erkennen. Plötzlich fröstelte er.
Er sieht mich an.
Er blinzelte. Das Gesicht des Grünen Manns bestand hauptsächlich aus Schatten, die Augen waren dunkle Höhlen. Was für ein Unsinn. Er lebt nicht. Er konnte nicht sehen. Er war eine unbeseelte Verzierung, aus einem Baum geschnitzt, den Menschenhände vor etwas über einem Jahrhundert gefällt hatten; nicht mehr als durch Eisen geformtes Holz.
Wie deine Christusfigur? Vergiss nicht, wie gekränkt du warst, als diese alte nari Ihn angespuckt hat.
Sofort rügte sich Pritam. Das ist etwas Anderes. Er ist mein Gott und Erlöser, aber der da oben … was ist der?
Er erinnerte sich an einen ähnlichen kalten Schauder der Erkenntnis, als er mit seiner betagten Mutter eine letzte Reise in ihre indische Heimat unternommen hatte, ehe sie starb, und einen der riesigen bernsteinfarbenen Jain-Tempel in Ranakpur besuchte. Er hatte genau wie jetzt das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden – was in einem Land mit einer Milliarde Einwohner praktisch immer der Fall ist – und als er sich umdrehte, hatte er in ein Gesicht gesehen, das in eine Säule geschnitzt war; lange, schlanke Blätter sprossen aus den Mundwinkeln, und die leeren Augen betrachteten ihn leidenschaftslos. Damals wie jetzt hatte er einen ahnungsvollen Schauder gespürt und den Wunsch, weit weg zu sein.
Er hatte seinerzeit angenommen, sein Unbehagen angesichts des fremdartigen Antlitzes würde mit seiner festen christlichen Überzeugung zusammenhängen. Doch als er nach seiner Berufung in diese Diözese zum ersten Mal in die Kirche hier spaziert war, hatte er ein verblüffend ähnliches geschnitztes Blättergesicht entdeckt. Warum sich eine derart unchristliche Abbildung an einem so heiligen Ort befand, hatte er John Hird gefragt. » Weiß der Himmel«, hatte Hird gebrummt. » Bin ich vielleicht Architekt?« Dann war er ins Pfarrhaus geschlurft, um Tee zu machen.
Und jetzt, allein in der Kirche, konnte Pritam das Gefühl nicht abschütteln, dass der Grüne Mann ihn unter seinem Kopfschmuck aus geschnitzten Blättern heraus ansah. Plötzlich kamen ihm die Worte der alten Mrs. Boye in aller Deutlichkeit wieder in Erinnerung. Blut ist das einzige Opfer, das den Herrn zufrieden stellt.
Er kann mein Blut riechen, dachte Pritam.
Der Gedanke war irrational, kindisch, dumm. Sein Herz raste. Seine Füße in den ledernen Ausgehschuhen kribbelten fluchtbereit. Doch er bückte sich betont langsam, um den Staubsauger aufzuheben. Das war seine Kirche hier. Aus der würde er nicht fliehen.
» Dies ist ein Haus Gottes«, sagte er laut. Die Worte hallten gegen den kalten, unbeleuchteten Stein und zwischen den alten, dunklen Holzbalken.
Er drehte sich um und ging zu der Tür in der Apsis, und die
Weitere Kostenlose Bücher