Der Sog - Thriller
Dinge, von denen du behauptest, du hättest sie gesehen … es ist erst ein paar Tage her, seit sich ein Mann vor deinen Augen erschossen hat, Nicholas.«
Sie beobachtete, wie ihr Bruder diesen letzten Satz verdaute. Er saß lange völlig reglos in seinem Sessel und starrte auf den schlammfarbenen, durchgelaufenen Teppich. Schließlich holte er tief Luft.
» Wahrscheinlich hast du Recht«, sagte er. Er nickte, stand auf und räumte ihrer beider Kaffeetassen ab. » Wahrscheinlich hast du Recht«, wiederholte er. » Ja. Was denkst du, woher ich diese Bisse habe?«
Suzette fühlte sich von warmer Erleichterung durchströmt. Ihr Bruder war seltsam, manchmal faul, ein gottverdammter Idiot, weil er irgendwelches Zeug aß, das er auf dem Waldboden fand … aber sie liebte ihn. Die Vorstellung, dass ihn seine Gabe in den Wahnsinn trieb, war beängstigend.
» Keine Ahnung. Vielleicht hat dich im Wald eine Baumschlange gebissen. Sie sind nicht giftig, du würdest es vielleicht erst viel später bemerken.« Sie zuckte mit den Achseln.
Er nickte wieder, während er die Kaffeetassen abtrocknete – das klang vernünftig. Er sah auf die Uhr und Suzette schaute auf ihre eigene. Es war fast neun.
» Ich fahre mal lieber nach Hause. Sonst glaubt Mum noch, wir hätten uns beide aus dem Staub gemacht.
Nicholas lächelte. » Danke, dass du vorbeigeschaut hast. Und tut mir leid, dass ich … du weißt schon. Dich beunruhigt habe. Und so weiter und so weiter …«
Suzette nahm ihn rasch in die Arme. » Schon gut. Ich bin froh, dass es dir besser geht.«
Er brachte sie zur Tür.
» Trotzdem«, sagte sie, als sie in die kalte Nacht hinaustrat, » glaube ich, du solltest lieber nicht in den Wald gehen.«
Er nickte wieder. » Guter Rat.«
Er schloss die Tür hinter ihr.
Nicholas zog vorsichtig den einst weißen Vorhang beiseite und sah, wie seine Schwester die Bymar Street entlangging, bis die Dunkelheit jenseits der von Straßenlaternen beleuchteten Flecken sie verschlang. Dann sank er zusammen.
Sie glaubt, ich spinne. Nun ja. Wenn neunundneunzig Leute sagen, der Himmel ist blau, und ein Typ mit wirren Haaren sagt, er ist grün – auf welche Seite schlägst du dich dann?
Suzette dachte, er würde unter einem Anflug von Golfkriegssyndrom leiden, nachdem er gesehen hatte, wie Gavin sich umbrachte. Das war in Ordnung. Trotzdem war sie immer noch da – sie war nicht nach Sydney zurückgeflogen. Das war weniger gut. Er fragte sich, ob er ihr zu viel erzählt hatte; sie hatte ihn erschreckt, als sie zur Tür hereingekommen war, er konnte es nicht ändern. Als der Knauf umgedreht wurde, wäre er nicht überrascht gewesen, die alte Frau mit ihren blauen, freudlosen Augen die Tür weit aufstoßen zu sehen, damit irgendein achtbeiniges Ding lautlos hereinkommen konnte. Als er gesehen hatte, dass es Suzette war, war seine Erleichterung so groß gewesen, dass er einfach drauflosgeplappert hatte. Gottlob war er noch so schlau gewesen, ihr nicht zu sagen, was Garnock, der kleine Terrier in Wirklichkeit war. Oder von der Vergewaltigung mit der Hand.
Er hatte es sich nicht eingebildet. Sicher, die Erdbeeren der alten Hexe hatten ihn Dinge sehen lassen – das wunderschöne Tal, den funkelnden Teich, das hübsche Boot, Cates Überraschung, was am sadistischsten von allem gewesen war. Aber er hatte auch Dinge gesehen, die tatsächlich da waren: dass das Boot ein eingefallener Rumpf war, das versteckte Häuschen der Hexe, die alptraumhafte, fuchsgroße Spinne Garnock …
Über ihm stand der Mond hoch und klein am Winterhimmel, ein schmaler Augenschlitz nur …
War das das Letzte, was Dylan Thomas gesehen hatte? Den Mond? Eine alte Frau? Ein Messer? Acht starr blickende Augen?
Er hatte Suzette viel erzählt, aber nicht zu viel. Wenn er sein neues, schreckliches Wissen nur noch ein paar Tage für sich behalten konnte, würde sie sicherlich zu ihrer Familie nach Hause fliegen. Dann musste er sich nur noch um Mum sorgen.
Die alte Frau will nicht deine Mutter. Sie will dich.
Nicholas merkte, wie seine Augen zum Ende der Bymar Street gezogen wurden, zur Kreuzung mit der Carmichael Road. Er konnte die Wand der dunklen Bäume dort spüren, real und feindselig wie eine Armee, die vor einer belagerten Stadt kampiert.
Er wollte den schmierigen Vorhang gerade loslassen, als ihm ein Stück näher in der Straße etwas ins Auge sprang.
Auf der anderen Straßenseite, in dem von Motten flackernden Lichtkegel einer Laterne, saß ein kleiner weißer
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