Der Sog - Thriller
ganze Zeit sträubten sich seine Nackenhaare, als stünden sie unter Strom.
Als Suzette die Tür zu Nicholas’ Wohnung aufgestoßen hatte, war das Erste, was sie gesehen hatte, das schreckensbleiche Gesicht ihres Bruders mit den ängstlich aufgerissenen Augen gewesen. Der Anblick hatte ihr, wenn sie ehrlich war, eine Scheißangst gemacht. » Wen hast du erwartet?«, hatte sie gefragt. Er hatte nur den Kopf geschüttelt und erwidert: » Ich weiß nicht, ob du es mir glauben würdest.«
Und nun, da er es ihr erzählt hatte, wusste sie tatsächlich nicht, ob sie es glauben sollte.
Nicholas hatte Kaffee gemacht, er hatte sie aufgefordert, Platz zu nehmen und ihr von seinem Tag im Wald an der Carmichael Road erzählt. Wie er dem Geist des kleinen Thomas gefolgt war. Wie er die von Spinnweben verstopften Tunnel unter dem Wasserrohr durchquert hatte. Wie er orientierungslos umhergelaufen war. Ein Boot entdeckt hatte, ausgerechnet ein Boot! Wie er eine alte Dame und ihren Hund gesehen hatte; einen Hund, dessen Bissspuren er Suzette zeigte. Es waren zwei kleine, rote Kreise, die aussahen, als wären sie Tage alt. » Erst waren sie viel größer«, erklärte er verlegen. Wie er das Bewusstsein verloren hatte. Wie er aufgewacht war und sich bewegungsunfähig vor der Hütte der alten Frau liegend wiedergefunden hatte. Wie er erneut von dem Hund gebissen worden war – und die Art, wie er » Hund« sagte, ließ Suzette vermuten, dass ihr Bruder ihr vieles nicht erzählte. Wie er nass, gesäubert und voller Übelkeit im hohen Gras an der Carmichael Road aufgewacht und nach Hause getorkelt war.
» Hast du meine Nachricht nicht gelesen?«, fragte Suzette.
Nicholas’ verständnisloser Blick genügte als Antwort. Sie drehte sich um und sah den gefalteten Zettel noch unter der Tür stecken. Typisch.
» Was glaubst du?«, sagte er. » Dass ich den Verstand verloren habe?«
» Ich glaube, dass du ein verdammter Idiot bist, wenn du Beeren isst, ohne zu wissen, was für welche es sind.«
» Ich sagte doch, es waren Erdbeeren.«
» Ach ja, bist du jetzt ein Spezialist für das Überleben in freier Wildbahn?«
Ihr Gesichtsausdruck war wohl zynisch gewesen; sie sah, wie sich die Miene ihres Bruders verhärtete.
» Sieh es doch mal aus meiner Sicht, Nicky. Du hattest Hunger. Du hast Beeren gegessen …«
» Erdbeeren.«
» Würdest du dein Leben darauf verwetten?«, fuhr sie ihn plötzlich zornig an. » Deinen Verstand? Genau das tust du nämlich gerade.«
» Wie meinst du das?«
» All die merkwürdigen Dinge, die du gesehen hast, all die verrückten Sachen, die dir zugestoßen sind – das ist alles passiert, nachdem du diese Beeren gegessen hattest.«
Sie beobachtete, wie der Gedanke ankam. Sie konnte sehen, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten, wie ihm bewusst wurde, dass alles möglicherweise nur eine von den Beeren hervorgerufene Halluzination gewesen war. Die Saat des Zweifels keimte. Sie nutzte die Gelegenheit aus.
» Glaub mir, ich weiß, wie wirkungsvoll manche Kräuter und Beeren sein können. Engelstrompete. Peyote. Die Samen der Purpurwinde …
Sie sah, wie Nicholas die Stirn runzelte und sein Blick zu der Wunde auf seiner Hand ging.
» Und das ist kein Hundebiss.«
» Nein«, stimmte er zu, doch mehr sagte er nicht.
Suzette versuchte es andersherum. » Die alte Frau …« Sie wartete, bis Nicholas sie ansah. » War das Mrs. Quill?«
Er schien ausgiebig darüber nachzudenken. Dann schüttelte er langsam den Kopf. » Sie sah nicht aus wie Quill. Nicht wie ich sie in Erinnerung habe.«
Suzette nickte. Aus irgendeinem Grund war sie froh über diese Antwort.
Bruder und Schwester tranken eine Weile schweigend ihren Kaffee. Nicholas rutschte auf seinem Sitz umher, als drängte es ihn, noch etwas zu sagen. Doch er blieb
stumm.
» Ich halte dich nicht für verrückt«, sagte Suzette leise.
» Da bin ich mir nicht so sicher«, flüsterte Nicholas. Er sah sie an. Seine Augen waren ernst. » Du warst diejenige, die gesagt hat, die Rune sei gefährlich. Du warst diejenige, die mehr erfahren wollte. Und jetzt, da ich dir mehr erzähle, denkst du …« Er schüttelte den Kopf. » Du denkst, ich bin über Giftpilze gestolpert.«
Suzette begegnete seinem Blick. Sie brachte es nicht fertig zu lügen. Ihre nächsten Worte sprach sie mit Bedacht.
» Ich glaube dir, dass du etwas gegessen hast. Vielleicht waren es Erdbeeren, vielleicht sahen sie nur so aus. Aber vielleicht spielt es auch keine Rolle. Denn diese
Weitere Kostenlose Bücher