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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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Er sprach nie darüber, aber das Wissen war in seinem Verhalten deutlich zu sehen. Warum sonst hatte er seinem Onkel die Rache ausgeredet? Warum sonst verriet er nicht allen seinen Verdacht über meine Verbindung mit dem Bemalten Mann? Er wusste oder vermutete, und er verstand, dass ich vorhatte, mein Geheimnis sogar vor ihm zu wahren. Aber auch er sah den Kummer meiner Eltern, und ich nehme an, es fiel ihm schwer, mich nicht zu verurteilen.
    Es gab nur einen Grund, froh zu sein und in die Zukunft zu schauen. Alle kümmerten sich um mich, als der Tag näher kam und das Kind größer wurde. Sean machte Witze über meinen zunehmenden Umfang, aber er war immer da, wenn ich Hilfe brauchte, ob es nun darum ging, eine Treppe hinaufzugehen oder den Weg zur Siedlung zurückzulegen. Bei all ihrer Schwäche beobachtete mich meine Mutter mit den scharfen Augen der Heilerin, verschrieb diverse Tees und bestand darauf, dass ich mich jeden Nachmittag ausruhte, während es wieder wärmer wurde und die ersten zarten Blätter auf den Buchenzweigen wuchsen. Mein Vater war am allerschlimmsten und achtete ständig darauf, dass ich jeden Mund voll dessen aß, was mir vorgesetzt wurde. Er verhörte mich geradezu, wie viel Schlaf ich bekam, begleitete mich auf jedem Weg nach draußen, um aufzupassen, dass ich mich nicht ermüdete. Mutter lachte ihn auf ihre sanfte Art aus und erklärte, er sei beide Male bei ihr ebenso schlimm gewesen. Dann schwieg sie, weil sie zweifellos an ihre kupferhaarige Erstgeborene denken musste, dieses reizende Mädchen, das im weißen Kleid durch die Wälder getanzt war.
    Sevenwaters war trotz der ausgedehnten Ländereien eine Gemeinschaft, die eng zusammenhielt, und es war schwer, den Klatsch zu vermeiden. Was ich hörte, beunruhigte mich. Als ich zur Siedlung ging, um die Kranken zu besuchen, was ich beinahe bis zur Geburt meines Kindes tat, gab es immer Menschen, die die Hand ausstreckten, um meinen Bauch zu berühren, und schüchtern lächelten. »Es bringt Glück, Herrin«, murmelten sie. Zunächst hatte ich keine Ahnung, warum sie so etwas taten, aber schließlich hörte ich die Geschichte, die umging – eine Geschichte, die so viel seltsamer war als die Wahrheit.
    Diese Geschichte erklärte, wieso ich so plötzlich verschwunden war und mit einem Kind in meinem Bauch zurückkehrte. Sie erklärte, wieso mein Vater und mein Onkel mich nicht in Ungnade davongeschickt hatten, sondern zu Hause bleiben ließen, wo ich mein vaterloses Kind in der Zuflucht des großen Waldes zur Welt bringen konnte. Es hieß, das Feenvolk hätte mich auserwählt, dieses Kind zur Welt zu bringen, damit die Prophezeiung endlich erfüllt und die Inseln gerettet wurden. Dann würden auch der See und der Wald wieder in Sicherheit sein. War ich nicht wie das Mädchen aus den alten Geschichten, die Tochter, die sie das Herz von Sevenwaters nannten? Wer wäre besser geeignet als mein Kind, um die Prophezeiung der Weisen zu erfüllen? Und kein Wunder, dass ich den Vater nicht nennen wollte, denn dies war ein Kind der Anderwelt und nur halb sterblich. Wer wusste schon, welche Macht ein solches Wesen hatte? So erzählten sie es. Ich hätte ihnen ein paar Wahrheiten mitteilen können, die ihre schöne Vision zerstörte, aber ich schwieg. Wer hätte schon geglaubt, dass die wohl behütete Tochter von Sevenwaters, die sich liebevoll um ihre Krankheiten gekümmert hatte, die verlässliche, häusliche Liadan, sich zu einem Gesetzlosen gelegt hatte und mit seinem Kind zurückgekehrt war? Wer hätte geglaubt, dass sie ein Netz von Falschheiten spinnen würde, um einen Mann zu schützen, der vielleicht für den Tod ihrer Schwester verantwortlich war? Es ist erschreckend, wie eine Lüge nur den Faden eines immer größer werdenden Stoffes der Unwahrheit darstellt. Und sobald dieser Stoff gewebt ist, kann man ihn sehr schlecht wieder auftrennen.
    Die Jahreszeiten vergingen, und ich hörte kein Wort von Niamh. Ich hörte überhaupt nichts. Mutter brachte Janis bei, als Hebamme zu dienen. Die knochige, hagere Janis schien alterslos. Es war schwer zu glauben, dass man sie einmal ›dicke Janis‹ genannt hatte, aber sowohl meine Mutter als auch Liam hatten mir das erzählt. Die schweren Winter zu Zeiten der Zauberin hatten ihren Zoll gefordert. Aber Janis hatte sanfte Hände, und ich wusste, dass ich ihr trauen konnte. Das Kind schien entschlossen, mit dem Kopf oben zu bleiben; Mutter sagte, sie konnten warten, denn es hatte immer noch Platz, sich

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