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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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mit seiner Schwester. Aber ich wünschte mir sehr, dass er kommen würde, denn ich musste ihm viele Fragen stellen. Wenn ich nur wissen würde, dass Niamh und Bran in Sicherheit waren, könnte ich mich mit einer geringeren Last auf meinem Gewissen von meiner Mutter verabschieden. Denn wenn meine Lügen meiner Schwester nicht die Freiheit geschenkt hatten, wenn mein Schweigen den Mann, der sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um mir zu helfen, nicht geschützt hatte, dann hätte ich der Familie genauso gut die Wahrheit sagen und der Sache damit ein Ende machen können.
    Das Haus war voller Menschen, und dennoch hing tiefe Stille über Sevenwaters, als wären selbst die Geschöpfe des Waldes jetzt leiser, während sie auf das Hinscheiden meiner Mutter warteten. Beim Essen ging es etwas lebhafter zu. Wir waren eine seltsame, bunt gemischte Gesellschaft – die Druiden waren ruhig und würdevoll, sprachen leise und aßen wenig; die Seeleute legten eine gesunde Begeisterung für unser gutes Essen an den Tag und noch mehr für unser Bier und hielten einen Fluss von Scherzworten aufrecht, die die Dienerinnen erröten und kichern ließen.
    Am Ende des Tisches saßen die Onkel: Liam, ernst wie immer, mit einer Müdigkeit über seinen Zügen, die etwas Neues war; Conor zu seiner Rechten, nachdenklich in seinem weißen Gewand; und zu seiner Linken der unverwüstliche Padraic und seine reizende, schweigende Begleiterin. Padraic übernahm den größten Teil der Konversation, er hatte viele Abenteuer zu erzählen, und wir lauschten erfreut, denn seine Geschichten von fernen Ländern und den seltsamen Menschen, die dort lebten, lenkten uns von der Trauer ab, die unseren Haushalt befallen hatte. Sean war noch nicht wieder zurückgekehrt.
    Vater aß nicht mehr länger mit uns. Ich denke, er fürchtete, auch nur einen einzigen Augenblick der Zeit zu verlieren, die Mutter noch blieb. Was Sorcha selbst anging, sie hatte vor langer Zeit schon akzeptiert, dass dieser Frühling der letzte ihres Lebens sein würde. Aber ich konnte sehen, dass sie beunruhigt war, weil es eine Last gab, die sie nicht ablegen konnte. Ich rang lautlos mit mir, als ich eines Nachmittags an ihrem Bett saß, ihre zarte Hand in meiner, und mein Vater im Schatten stand und sie beobachtete.
    »Roter.« Ihre Stimme war sehr leise; sie sparte sich die Kraft, die sie hatte, auf und benutzte ihre Kenntnisse als Heilerin, um sich ein wenig mehr kostbare Zeit zu kaufen.
    »Ich bin hier, Jenny.«
    »Es wird jetzt nicht mehr lange dauern.« Ihre Worte waren kaum mehr als ein Seufzer. »Sind sie alle da?«
    Mein Vater konnte kaum sprechen.
    »Sean ist noch nicht zurückgekommen.« Meine eigene Stimme bebte gefährlich. »All deine Brüder sind hier bis auf …«
    »Bis auf Finbar? Er wird kommen. Sean muss morgen bis zur Abenddämmerung hier sein. Sag es ihm, Liadan.«
    In ihren Worten lag eine Sicherheit, die mich zum Schweigen brachte. Es hatte keinen Sinn zu behaupten, sie würde vielleicht noch mehr Zeit haben. Sie wusste es. Mein Vater kniete sich neben das Bett und legte seine große Hand auf ihre. Ich hatte ihn nie weinen sehen, aber nun waren Tränenspuren auf seinem Gesicht.
    »Liebes Herz«, sagte Sorcha und blickte zu ihm auf, ihre grünen Augen riesig in dem kleinen Gesicht. »Es ist nicht für immer. Ich werde immer noch hier sein, irgendwo im Wald. Und was immer meine körperliche Gestalt sein wird, ich werde stets in deiner Nähe sein.«
    Ich setzte dazu an, aufzustehen, um sie allein zu lassen, aber Mutter sagte: »Noch nicht, Liadan. Ich muss mit euch beiden zusammen sprechen. Es wird nicht lange dauern.«
    Sie war sehr müde; ihr Atem ging sehr schwer. Keiner von uns sagte ihr, sie solle sich nicht anstrengen. Niemand in der Familie hatte Sorcha je gesagt, was sie tun sollte.
    »Es hat Geheimnisse gegeben«, sagte sie und schloss kurz die Augen. »Es ist die alte Magie, die hier wirkt, die alte Zauberei, die schon einmal ihre böse Hand um uns schloss. Sie hat versucht, uns zu trennen, zu vernichten, was hier in Sevenwaters immer so gut bewacht wurde. Vielleicht können nicht alle Geheimnisse verraten werden. Aber ich möchte dir sagen, Tochter, was immer geschieht, wir vertrauen dir. Du wirst stets deinen eigenen Weg wählen, und einige dieser Wege werden anderen falsch erscheinen. Aber ich weiß, du folgst dem Weg der alten Wahrheit, wohin du auch gehen magst. Ich sehe das in dir und in Sean. Ich vertraue dir, Liadan.« Sie blickte zu Vater auf. »Wir

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