Der Sohn der Schatten
Tasten auch war, ich spürte es.
»Entschuldige mich«, sagte ich und wandte ihm den Rücken zu. »Ich muss das Kind stillen. Vielleicht sehe ich dich später beim Abendessen, Onkel.«
»Ich glaube, er kann noch ein wenig warten. Im Augenblick scheint er an seiner Faust viel interessierter zu sein. Du bist ein starkes Mädchen, Liadan. Du schützt deinen Geist mit großer Kunstfertigkeit. Nur wenige können sich mir widersetzen.«
»Ich habe geübt.«
»Es ist schwierig, so viele Geheimnisse zu wahren, nicht wahr? Ich habe einen Vorschlag für dich, etwas worüber du nachdenken könntest.«
Ich schwieg.
»Deine Fähigkeiten sind recht – bedeutsam. Deine geistige Beherrschung bereits sehr entwickelt, und du begreifst schnell. Dann sind da deine anderen Gaben, die nur noch kaum angewandt hast. Warte, bis der Junge ein wenig älter ist, vielleicht entwöhnt, vielleicht bis er laufen kann. Vielleicht ein Jahr. Dann komm zu uns in die Nemetons und bring ihn mit. Wir könnten deine Fähigkeiten brauchen und dir helfen, sie weiterzuentwickeln. Du bist in einer solch häuslichen Umgebung verschwendet. Und Johnny – wer weiß, was aus ihm werden könnte, wenn er die richtige Ausbildung erhielte? Vielleicht ist, was sie über ihn sagen, nur die Wahrheit.«
Ich wandte mich ihm zu, sah ihm direkt in seine tiefen, weisen Augen.
»Du hast Niamhs Wahl für sie getroffen, und es war eine falsche Wahl. Falscher, als du je erfahren wirst. Vielleicht versuchst du, Ciarán zu ersetzen. Ein fähiger Schüler. Ein großer Verlust für dich, denke ich. Aber du wirst nicht meine Zukunft bestimmen, wie du die meiner Schwester bestimmt hast. Johnny und ich treffen unsere eigene Wahl. Wir brauchen keine Anleitung.«
Trotz meiner barschen Worte schien er nicht beleidigt zu sein, als wären sie genau das, was er erwartet hatte.
»Triff deine Entscheidungen nicht so rasch«, sagte er. »Das Angebot besteht weiter. Das Kind sollte im Wald bleiben. Was immer du entscheidest, vergiss das nicht.«
***
Ein paar Tage später erschien ein weiterer Onkel. Trotz des sprechenden Vogels auf seiner Schulter, der drei Seeleute, die ihn begleiteten, und der hübschen jungen Frau an seiner Seite gelang es Padraic immer noch, bis zum Rand der Siedlung zu gelangen, ohne dass Liams Wachen ihn entdeckten. Liam war darüber recht aufgebracht, aber die Freude, nach so langer Zeit seinen Bruder wieder zu sehen, wischte alle anderen Empfindungen beiseite. Padraics wettergegerbte Haut und die blinzelnden blauen Augen, seine Grübchen und der lange Zopf sonnengebleichten braunen Haars zogen die Blicke der Frauen an, obwohl er schon sechsunddreißig Jahre alt war. Auch seine weibliche Begleiterin bewirkte, dass überall die Brauen hochgezogen und Zungen gewetzt wurden. Denn sie war sehr viel jünger als er, ihre Haut hatte das zarte goldene Braun von Pfefferminztee, und ihr schwarzes Haar war so lockig wie Schafswolle und in ordentliche, feste Reihen geflochten. Sie trug bunte Glasperlen, weiß und grün und rot, und ihre Füße unter einem gestreiften Gewand waren nackt. Padraic stellte sie als Samara vor, aber er erklärte nicht, ob sie seine Frau oder seine Liebste war oder einfach nur zur Besatzung seines Schiffes gehörte. Samara sprach nicht. Sie ließ ihre weißen Zähne zu einem Lächeln aufblitzen, das mich schmerzlich an das von Möwe erinnerte. Denn ich hatte immer noch kein Wort gehört. Meine Schwester war tatsächlich verschwunden und ihre Retter mit ihr, so sicher, als wären sie über den Rand der Welt hinweggegangen.
Es gab nur einen einzigen Menschen, von dem ich glaubte, dass er mir vielleicht helfen könnte, und das war der Onkel, der nicht aufgetaucht war. Ich wusste nicht, ob er noch kommen würde, nicht einmal, um sich von seiner Schwester zu verabschieden. Finbar war ein Geschöpf des Übergangs, unsicher zwischen einer Welt und der anderen. In all den langen Jahren, seit er Sevenwaters verlassen hatte und in die Nacht hinausgegangen war, war er nicht ein einziges Mal zurückgekehrt. Nicht für das Begräbnisritual seiner beiden Brüder, Diarmid und Cormack, die beide in der letzten großen Schlacht um die Inseln gefallen waren. Nicht für meine Geburt und Seans und nicht für die von Niamh. Nicht an dem Tag, als sein Vater gestorben war und Liam Herr von Sevenwaters wurde. Vielleicht würde er auch jetzt nicht kommen, denn er konnte Sorcha sehen und mit ihr sprechen, ohne in ihrer Nähe zu sein. Solcher Art war seine Verbindung
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