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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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Gabe, als selbst Conor sie hat. Eine gefährliche Gabe.«
    »Sag es mir, Vater.«
    »Sie begannen, sich zu erinnern. Es gab Zeiten, wenn der Junge nirgendwo zu sehen war, und Rory behauptete dann immer, der Straßenköter müsse in seiner Kiste bleiben, bis er lernte zu gehorchen. Manchmal, wenn jemand an der Tür zu dem Schuppen vorbeigegangen war, hatte er leise Geräusche von unter dem Boden her gehört, winzige Bewegungen, ein Kratzen. Eine Ratte, sagte Rory. Einer von ihnen hatte es sogar gesehen, hatte gesehen, wie Rorys Frau das Kind herausholte, zitternd, bebend, schweigend, die Kleidung schmutzig, weil er sich erleichtert hatte. Dreckschwein, hatte die Frau gesagt und ihn geschlagen. Das Seltsame war, der Junge hat nie ein Wort gesprochen. Keine Tränen. Er hatte auch nicht versucht, sich zu schützen. Er hatte nur dagestanden und gewartet, bis sie fertig war. Das machte sie zornig, und sie schlug fester zu. Die Menschen gingen nicht gern dorthin, es gefiel ihnen nicht, was sie sahen. Aber niemand protestierte. Sie hatten Angst vor Rory. Außerdem sagten sie, was im Haus eines Mannes geschieht, geht niemanden etwas an.«
    »Wie haben sie herausgefunden, wer das Kind war?«
    »Ah. Die Suche brachte das an den Tag. In der Hütte war ein Gegenstand versteckt, der es ganz deutlich machte.«
    Er griff in die Tasche und holte etwas Kleines, Weiches heraus, das aus festem Stoff mit seidiger Oberfläche bestand. Er legte es auf die Decken zwischen uns, so dass es auf Brans Herz zu liegen kam. Es gab nicht viel Licht, aber ich konnte Spuren einer Stickerei erkennen, Blätter, Blüten, kleine geflügelte Insekten. »Es besteht kein Zweifel daran, wem das gehörte«, sagte mein Vater. »Margery konnte gut mit der Nadel umgehen. Du hast solche Muster sicher auf dem blauen Kleid gesehen, das deine Mutter so gern getragen hat …« Er brach ab, denn diese Wunde war noch frisch.
    »Das stimmt«, sagte ich leise.
    »Margerys Eltern waren Imker im Süden gewesen«, sagte er. »Das hier war der kleine Beutel, in dem sie ihre Wertsachen aufbewahrte. Sie hatte ein wenig Silber dabei für den Markt. Das war selbstverständlich weg. Rory hatte es längst ausgegeben. Den Beutel und den Rest des Inhalts konnte er nicht verkaufen. Das hätte sofort den Verdacht auf ihn gelenkt, und alle wussten, dass Margery in dieser Gegend umgekommen war. Es ist unglaublich, dass Rory wusste, wer der Junge war, und es trotzdem geheim hielt. Er muss es gewusst haben, sobald man nach dem Kind suchte; vielleicht hatte er sich selbst sogar neben den Männern meines Bruders daran beteiligt. Warum hat er das Kind nicht hergegeben, damit es wieder nach Harrowfield gebracht wurde? Aber Rory entschied sich, sie die Geschichte von den wilden Hunden glauben zu lassen. Aus irgendeinem Grund hat er den Jungen behalten. Solche Menschen genießen die Macht, die sie haben. Ich nehme an, er fand diesen kleinen Sklaven amüsant. Rory wusste, dass das Kind mit mir verwandt war, und er hatte, nachdem ich ihn verbannt hatte, nichts als Hass und Ablehnung für mich übrig. Das ist zweifellos die Ursache der Verbitterung dieses Mannes hier gegen mich. Während er aufwuchs, hatte er nichts als Böses über mich und die Meinen gehört.«
    »Was war in dem Beutel?«
    Mein Vater reichte mir einen kleinen Gegenstand an einer feinen Kette. Ich hielt ihn in der Hand, spürte den Anhänger mehr, als dass ich ihn sah. Silber, nahm ich an, mit zarten Mustern um eine emaillierte Mitte.
    »Was ist da drin?«
    »Zwei Haarlocken. Eine braun und lockig, die andere hell und seidenfein. Die erste stammt von John, die zweite von ihrer Tochter, die kurz nach der Geburt gestorben war. Der Anhänger war ein Geschenk von John, als er erfuhr, dass Margery schwanger war. Ein Geschenk der Hoffnung. Margery legte diesen Anhänger nie ab. Sie hätten sich beide wohl kaum träumen lassen, dass er einmal zu einem Symbol von Tod und Trauer werden würde. Wie er in Rorys Hütte kam, weiß niemand.«
    »Ah«, sagte ich. »Aber er erinnert sich, und daher weiß ich es.«
    »Wie kann er sich erinnern? Er war kaum drei Jahre alt.«
    »Ihre Stimme. Ihre Hände. Sie hat ihn in dem kleinen Keller versteckt. Ich nehme an, sie waren dicht an dieser Hütte, die einsam in den Hügeln steht, als man sie angriff. Hineinzugehen, sich verstecken zu wollen, wäre sinnlos gewesen; die Pikten achten den Besitz anderer nicht, und sie hätten das Haus nur abgebrannt oder die Türen aufgebrochen, aber sie konnte das

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