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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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sie ein kleines Stück ihres Weges begleiten sollte.
    »Bist du sicher, dass du mich entbehren kannst?«, hatte ich Mutter gefragt.
    »Wir kommen schon zurecht«, meinte sie lächelnd, aber dieser Tage stand große Trauer in ihrem Blick. »Du musst dein eigenes Leben leben, Tochter. Wir werden schon eine Weile ohne dich auskommen.«
    Ich hatte daran gedacht, sie zu fragen, was es bedeutete, dass ein Geschöpf aus der Anderwelt mich angeleitet hatte, das Geheimnis meiner Schwester zu entdecken, und sie auf einen Weg gebracht hatte, der von Sevenwaters und vom Wald wegführte. Denn ich hatte keinen Zweifel daran, dass das Feenvolk damit zu tun hatte – ich wusste bloß nicht, warum sie es taten. Meine Mutter würde es vielleicht wissen, denn sie hatte diese mächtigen Wesen mehrmals von Angesicht zu Angesicht gesehen und war von ihren Wünschen geleitet worden. Aber ich fragte nicht. Mutter hatte genug, das sie belastete. Und außerdem war es zu spät. Zu spät für Niamh und zu spät für Ciarán, der davongegangen war, und niemand wusste, wohin.
    Vater war nicht ganz so bereit, mich davonziehen zu lassen, aber er erkannte, wie es mit Niamh aussah, und stimmte zögernd zu. »Bleib nicht so lange weg, Liebes«, sagte er. »Bestenfalls fünf oder sechs Tage. Und geh nirgendwo unbewacht hin. Liam wird Bewaffnete mitschicken, die dich sicher wieder nach Hause bringen.«
    Vor ihrer Hochzeit machte ich eine schöne, starke Schnur, die meine Schwester um den Hals tragen konnte. Während ich sie webte, erzählte ich mir selbst noch einmal die Geschichte von Aengus Óg und der schönen Caer Ibormeith, und ich spürte das Gewicht ungeweinter Tränen hinter meinen Augen. Ich webte einen Goldfaden vom Gewand meines Onkels Conor in die Schnur. Es waren Heidekraut- und Lavendelfasern in dieser Schnur, Schöllkraut und Wacholder. Ich versuchte, sie so gut wie möglich zu schützen. Es gab einfache Leinenfäden aus meinem eigenen Arbeitsgewand und einen blauen Faden aus Mutters ältestem, liebsten Kleid. Seans Reitumhang lieferte dunkle Wolle, und die Lederstreifen, mit denen das Ende der Schnur gebunden war, stammten von Iubdans alten Arbeitsstiefeln. Den schlammigen Stiefeln eines Bauern. Ich drehte alles zu einer Schnur, die schön und glatt und so fein geflochten war, dass es mehr als die Kraft eines Sterblichen brauchen würde, sie zu zerreißen. Ich sagte nichts, als ich sie in Niamhs Hand gleiten ließ, und auch sie sprach kein Wort. Aber sie wusste, wozu sie da war. Sie nahm den kleinen weißen Stein aus ihrer Tasche, fädelte die Schnur durch das kleine Loch darin und hängte sie sich um den Hals, und ich hob ihr schönes goldenes Haar hoch und band die Lederstreifen fest zusammen. Als sie den Stein unter ihr Kleid gleiten ließ, war er nicht mehr zu sehen.
    Seit jenem Abend, als sie gelernt hatte, dass es Männer sind, die Entscheidungen fällen, und die Frauen ihnen folgen müssen, hatte meine Schwester Ciarán nicht ein einziges Mal erwähnt. Tatsächlich hatte sie überhaupt nicht viel gesprochen. Diese Tränen waren ihre letzten gewesen, die letzten Zeichen von Schwäche. Ich sah die Bitterkeit in ihrem Blick, als sie Liam erzählte, sie werde Fionn heiraten, wie er es wünschte. Ich sah den Schmerz in ihrem Blick, als sie ihre Kleider und Schuhe und Schleier packte, als sie zusah, wie die Frauen ihr Hochzeitskleid nähten und aus dem Fenster auf den Sommerwald von Sevenwaters schaute. Sie sagte kaum etwas, sie sprach nicht einmal mit Mutter. Vater versuchte, mit ihr zu reden, aber sie kniff die Lippen zusammen und hörte nicht auf seine ruhigen Worte, als er versuchte, ihr zu erklären, dass dies tatsächlich das Beste für sie sei; dass sie später erkennen würde, dass man die richtige Entscheidung für sie getroffen hatte. Danach gewöhnte sich Vater an, lange auf dem Feld zu bleiben, damit er mit keinem von uns sprechen musste. Sean beschäftigte sich mit den Männern im Übungshof und ging seinen beiden Schwestern aus dem Weg.
    Was mich anging, ich liebte Niamh und wollte ihr helfen. Aber sie ließ mich nicht ein. Nur einmal, am Abend vor ihrer Hochzeit, als wir schlaflos ein letztes Mal das Zimmer teilten, sagte sie sehr leise: »Liadan?«
    »Was ist, Niamh?«
    »Er hat gesagt, dass er mich liebt. Aber dann ist er weggegangen. Er hat mich angelogen, Liadan. Wenn er mich wirklich geliebt hätte, hätte er mich nie verlassen. Er hätte nicht so leicht aufgegeben.«
    »Ich denke nicht, dass es ihm leicht gefallen

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