Der Sohn der Schatten
Stimme lebhaft vor Hoffnung.
»So viel zu Liams Plan, es geheim zu halten«, meinte ich trocken.
»Ich muss gehen. Ich muss hinunter zu ihm …«
»Hast du denn überhaupt nicht zugehört?«, fragte ich sie. »Du kannst nicht runtergehen. Du kannst ihn nicht sehen. Es ist dir verboten. Hat Vater nicht etwas darüber gesagt, dass du in deinem Zimmer bleiben sollst?«
»Aber ich muss ihn sehen! Liadan, du musst mir helfen!« Sie wandte mir diese großen, flehenden Augen zu, wie schon so oft zuvor.
»Ich werde es nicht tun, Niamh. Und du hast Unrecht. Er ist nicht hier, um dich insgeheim wegzuholen. Ein Geliebter tut das nicht, indem er beinahe die Tür des Vorderhauses einschlägt. Er ist hier, weil er gehört hat, was geschehen ist, und es nicht begreift. Er ist hier, weil er verletzt und zornig ist und Antworten will.«
Drunten war der nächtliche Besucher hereingelassen worden, und die Tür schloss sich hinter ihm. Es war wieder still geworden.
»Ich muss es wissen«, zischte Niamh und packte mich an den Armen, genau da, wo sie mir zuvor schon blaue Flecken beigebracht hatte. »Geh du, Liadan. Geh nach unten und hör zu. Finde heraus, was geschieht, und erzähl mir, was sie gesagt haben. Ich muss es wissen.«
»Niamh …«
»Bitte. Bitte, Liadan. Du bist meine Schwester. Ich werde nicht gegen ihre Verbote verstoßen, ich werde hier bleiben, das verspreche ich dir. Bitte.«
Trotz all ihrer Fehler liebte ich meine Schwester, und es war mir nie leicht gefallen, ihr etwas abzuschlagen. Außerdem musste ich zugeben, dass auch ich wissen wollte, was dort hinter verschlossenen Türen besprochen wurde. Ich fühlte mich nicht wohl in einem Haus voller Geheimnisse. Aber ich hatte Liams Miene gesehen und den Zorn in der Stimme meines Vaters vernommen. Ich wollte nicht an einem Ort entdeckt werden, an dem ich nicht sein sollte.
»Bitte, Liadan. Du musst mir helfen. Du musst einfach.«
In dieser Weise machte sie noch einige Zeit weiter, weinte und flehte, und ihre Stimme wurde heiser vor Tränen. Am Ende hatte sie mich überredet.
Mit einem Schal über dem Nachthemd schlich ich leise den Flur entlang, bis ich schwaches Licht unter der Tür des Zimmers hindurchfallen sah, in dem wir zuvor miteinander gesprochen hatten. Es war niemand in der Nähe. Offenbar war es Liam gelungen, eine öffentliche Szene zu vermeiden.
Von drinnen erklangen Stimmen, aber ich konnte die Worte nicht verstehen. Es klang, als wären vier Männer dort drinnen. Liam, barsch und entschieden; dann die gemessenere Stimme von Conor. Die Stimme meines Vaters war tiefer und leiser. Sean hatte man offenbar ausgeschlossen. Vielleicht nahmen sie an, er sei noch zu jung und zu unbesonnen für eine solche Beratung. Ich stand zitternd oben an der Treppe. Nun erklang Ciaráns Stimme; die Worte waren nicht zu erkennen, der Tonfall barsch vor Kummer und Empörung. Ich spürte, wie sich jemand im Zimmer bewegte und versuchte, mich zurückzuziehen. Aber ich war nicht schnell genug. Die Tür wurde aufgerissen, und der junge Druide stürzte heraus, das Gesicht kreideweiß, die Augen blitzend. Als die Tür wieder zufiel, hörte ich Liam sagen: »Nein. Lass ihn gehen.«
Ciarán blieb stehen und starrte mich an, wie ich dort reglos in meinem alten Nachthemd und mit einem Wollschal stand. Ich dachte, dass er wohl kaum sah, was sich vor ihm befand, seine Augen waren voller Geister. Aber er wusste, wer ich war.
Er griff in den Beutel, den er an seinem Gürtel trug. »Sag ihr, dass ich weggehe. Sag ihr … gib ihr das hier.« Er ließ etwas Kleines in meine Hand fallen, und dann war er weg, ohne einen Laut, die Treppe hinab und in der Dunkelheit verschwunden.
Als ich sicher wieder in meinem Zimmer war, gab ich Niamh den glatten weißen Kiesel mit dem säuberlich hineingebohrten Loch darin, und ich sagte ihr, was er gesagt hatte, und hielt sie in den Armen, während sie weinte und weinte, als wollte sie nie wieder aufhören. Und tief drinnen in meinem Geist hörte ich das Geräusch von Hufschlägen, als Ciarán davonritt, weiter und weiter, so viele Meilen von Sevenwaters weg, wie sein Pferd ihn bis zum Sonnenaufgang tragen würde.
***
Noch vor Mitsommer heiratete meine Schwester Fionn, den Sohn des Häuptlings der Uí Néill, und am selben Tag nahm er sie mit sich nach Tirconnell. Ich ritt mit ihnen bis zu dem Dorf Littlefolds. Das war zumindest der Plan. Schweigend, erstarrt, unerreichbar in ihrem Kummer, hatte Niamh eine einzige Bitte geäußert: dass ich
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