Der Sohn des Alchemisten
sowieso nicht mehr zu denken – und eigentlich war sie sehr froh darüber.
»Kennt ihr noch ein anderes Wirtshaus, das
Zum goldenen Ochsen
heißt? Ich nicht! In Ponferrada hab ich ihn gesehen. Gleich bei der Brücke. Er ist aber heute früh im Morgengrauen losgezogen, längst vor mir. Er ist mit seinen Maultieren sicher schon in der nächsten Herberge. Oder noch weiter!«
»Und wir Trottel sind über den Fluss geschwommen! Sonst hätten wir ihn an der Brücke treffen können! Ich wollte ja von Anfang an nicht schwimmen! So ein Pech!« Jakob war den Tränen nahe.
»Oh, verstehe, mein Junge, verstehe!« Der Mönch machte ein betrübtes Gesicht. »Ihr habt euch sozusagen um eine Nasenlänge oder Haaresbreite verpasst. Aber, aber! Keine Tränen! Nicht aufgeben! Ihr zwei seid doch jung und kräftig – lauft los, macht, dass ihr zur nächsten Herberge kommt. Vielleicht ist er ja dort abgestiegen. Und wenn nicht, dann entkommt ihr wenigstens dem Unwetter, das sich dort hinten zusammenbraut.« Bruder Johannes versetzte Jakob einen Klaps. »Nur Mut, nur Mut! Das kann doch kein Zufall sein, dass wir hier zusammengeführt wurden und ich euch diesen Tipp geben konnte! Das ist doch ein Wink des Himmels! Was wartet ihr noch!«
Wie zur Bestätigung schnaubte Josephine kräftig und stupste Marie an.
»Du hast recht, Bruder Johannes!«, rief Marie. »Du bist unser himmlischer Wegweiser!«
Jakob packte Maries Hand und zog sie hoch. »Worauf warten wir! Wir haben schon viel zu lange hier gesessen! Sicher ist mein Vater dort! Komm, Marie!«
Und mit großen Schritten sprang er voran, den Berg hinauf.
Marie schnaufte. Der Weg war steil. Dichter Nebel umgab sie, denn die Wolken hatten sich jetzt vollends über die Bergkuppe gelegt. Ihr Pfad verschwand im Weiß.
Wortlos hastete Jakob voran. Jetzt, wo er sich seinem Ziel so nah glaubte, sprang er über Steine und Wurzeln und schien überhaupt nicht zu spüren, wie steil es die ganze Zeit bergauf ging. Marie kam beinah nicht hinterher und hatte manchmal Mühe, Jakob im Blick zu behalten.
Plötzlich wusste sie gar nicht, ob sie sich darüber freuen sollte, dass Jakobs Vater womöglich im nächsten Gasthaus saß und seinen Sohn in wenigen Stunden in die Arme schließen würde. Was würde sein, wenn Jakob seinen Vater wiedergefunden hatte? War ihr gemeinsamer Weg dann zu Ende? Was würde dann aus ihr?
»Jakob!«, rief sie. »So warte doch!«
Gerade noch konnte sie erkennen, wie er wie ein dunkler Schatten hinter einem Baum in den Nebelschwaden verschwand.
»Jakob!«, rief sie noch lauter und wäre beinah gestolpert. »Wir müssen zusammenbleiben!«
Der Nebel verfing sich in ihren Haaren. Mit einem Mal schauderte sie. Es war kalt geworden.
»Hier bin ich doch«, hörte sie Jakobs Stimme. »Wo bleibst du denn? Marie – ah!«
Plötzlich war alles still.
Was war los?
Hastig umrundete sie den dicken Baumstamm.
Da stand einer.
Eine dunkle Gestalt im Nebel.
»Jakob?«, fragte sie zögernd.
Die Gestalt wandte sich zu ihr.
Aber es war nicht Jakob, der da stand.
Marie schrie leise auf.
Die Gestalt kam auf sie zu. Jetzt konnte sie das Gesicht sehen. Auf den Wangen waren zwei tiefe Brandmale zu erkennen.
Das war Iwein von Brabant!
»Habe ich nicht gesagt, dass wir uns wiedersehen würden?«, sagte er und grinste.
Jetzt entdeckte sie auch Jakob. Er stand mit dem Rücken zu einem Felsen und starrte Iwein an, als wäre er ein Gespenst.
»Der Weg verliert niemanden«, redete Iwein weiter,»hab ich’s doch gesagt, Schätzchen. Na, na, na, Junge, du brauchst dein Messer nicht auszupacken.«
Marie sah, wie Jakob ertappt aufhörte, an seinem Bündel zu fummeln.
»Was habt ihr gegen mich?«, fuhr Iwein fort und humpelte näher. »Hab ich euch nicht vor den eitlen Bürgersleuten gerettet?«
Er kam immer näher. Marie wich unwillkürlich zurück.
»Pilger sollten zusammenhalten«, fuhr er fort. »Wisst ihr, ob dort oben in den Bergen ein Dorf kommt? Ich habe keine Ahnung, ob ich auf dem richtigen Weg bin!«
Marie spürte ihr Herz klopfen. Er machte noch einen Schritt auf sie zu. »Mädchen, damit du merkst, dass ich es ehrlich meine, will ich euch warnen. Ein roter Reiter ist unterwegs, er hat mich beinah in den Abgrund gedrängt!«
»Lass Marie zufrieden!«, hörte sie Jakob rufen.
»Lasst uns zusammen gehen!« Iwein klang beinah bittend. »Wenn dieser Reiter wiederkommt, dann schnappen wir ihn uns und dann – au! Ah!«
Plötzlich krümmte sich der hagere Mann zusammen. Jakob
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