Der Sohn des Azteken
den Verlust ihres Gemahls?«
»Unsinn!« Mein Zorn wuchs. »Selbst wenn sich die Tiefen des Nichts von Mictlan vor ihr auftun sollten, würde sich Améyatzin niemals vor der Erfüllung ihrer Pflicht drücken. Wie habt ihr sie dazu gebracht? Durch Folter? Vergewaltigung? Wie?«
»Das könnte Euch nur Yeyac sagen. Er allein hat das erreicht. Und Ihr habt dafür gesorgt, daß er es Euch nicht mehr verraten kann. Doch eines kann ich Euch versichern«, fuhr er mit hochgezogenen Augenbrauen fort, »mein Herr Yéyactzin hätte sich nie dazu herabgelassen, eine Frau zu vergewaltigen oder sich sonst irgendwie für ihren Körper zu interessieren.«
Diese Bemerkung machte mich wütender als die Lügen seiner Kameraden, und der dritte Hieb mit dem Obsidianschwert spaltete ihn von der Schulter bis zum Bauch.
Der einzige überlebende Krieger auf der anderen Seite hatte sich klugerweise außer Reichweite meiner Waffe begeben, doch er starrte ängstlich zum Himmel hinauf. Es regnete zwar nicht mehr, aber trotzdem zogen noch immer bedrohlich dunkle Wolken tief über uns hinweg. »Es ist klug von dir, nicht davonzulaufen«, sagte ich. »Tlalocs Blitze sind sehr viel länger als mein Arm.« Er begann am ganzen Leib zu zittern. »Keine Angst, ich schone dich zumindest eine Zeitlang, und dafür habe ich einen bestimmten Grund.«
»Grund?« fragte er mit belegter Stimme. »Aus welchem Grund, Herr?«
»Ich will, daß du mir alles berichtest, was in den Jahren meiner Abwesenheit in Aztlan geschehen ist.«
»Ayyo, selbst die geringste Kleinigkeit, Herr!« erwiderte er und wischte sich die schweißnasse Stirn. »Womit soll ich anfangen?«
»Ich weiß bereits, daß sich Yeyac mit den Spaniern verbündet hatte und mit ihnen unter einer Decke steckte. Also sag mir zuerst: Befinden sich Spanier in unserer Stadt oder irgendwo auf unserem Gebiet?«
»Nein, Herr, nicht im Herrschaftsbereich von Aztlan. Es stimmt, Yeyac und wir, seine Leibwache, waren regelmäßig in Compostela, aber von dort sind keine Weißen hierher in den Norden gekommen. Der spanische Gouverneur hat einen Eid geschworen, daß Yeyac unangefochten in Aztlan herrschen kann, allerdings unter der Bedingung, daß er alle räuberischen Überfälle auf das Gebiet des Gouverneurs verhindert.«
»Mit anderen Worten«, sagte ich, »Yeyac war bereit, für die Weißen gegen die Menschen der EINEN WELT zu kämpfen. Ist das jemals geschehen?«
»Ja«, erklärte der Krieger und bemühte sich, unglücklich zu wirken. »Zwei- oder dreimal ist Yeyac mit Truppen ausgezogen, die ihm persönlich treu ergeben waren. Und sie haben die eine oder andere kleine Schar Unzufriedener … nun ja … davon abgehalten, nach Süden zu ziehen und den Spaniern Schwierigkeiten zu machen.«
»Du sagst treu ergebene Truppen. Das klingt, als seien nicht alle Krieger und Bewohner von Aztlan glücklich darüber gewesen, Yeyac zum Uey-Tecutli zu haben.«
»So ist es«, murmelte er zerknirscht. »Die meisten Azteca und auch die Mexica zogen die Herrschaft von Améyatzin und ihrem Gemahl bei weitem vor. Sie waren entsetzt, als die Herrin der Regentschaft enthoben wurde. Natürlich wäre es ihnen noch lieber gewesen, Mixtzin wiederzuhaben. Sie hoffen nach all den Jahren immer noch, daß er zurückkommt.«
»Wissen die Leute von Yeyacs verräterischem Bündnis mit dem spanischen Gouverneur?«
»Nur sehr wenige.« Er seufzte, und als er meinen zornigen Blick auf sich gerichtet sah, fügte er schnell hinzu: »Nicht einmal die Mitglieder des Rates wissen es. Es ist nur uns, Yeyacs Leibwache, bekannt und den treu ergebenen Truppen, von denen ich gesprochen habe. Abgesehen davon nur noch einer bestimmten Person, die eines Tages in das Gebiet gekommen ist und ihn seitdem beraten hat. Doch in Aztlan fand man sich, wenn auch widerstrebend, mit Yeyacs Herrschaft ab, weil er behauptete, er allein könne das Eindringen der Weißen verhindern. Dieses Versprechen hat er gehalten. Kein Bewohner von Aztlan hat bisher einen Spanier gesehen … noch nicht einmal ein Pferd«, fügte der Mann mit einem Blick auf mein Reittier hinzu.
»Wenn Yeyac die Spanier vor Überfällen schützt«, sagte ich, »bedeutet das, er gibt ihnen Zeit, ungehindert ihre Truppen zu verstärken und aufzurüsten, bis sie bereit sind, in unser Land einzumarschieren. Und genau das wird geschehen.« Ein fernes Donnergrollen schien meine Gedanken zu bestätigen. »Aber du sprichst von einer gewissen Person, die Yeyac beraten hat. Wer ist das?«
»Habe ich
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