Der Sohn des Azteken
auf, wo Tlaloc herrscht. Wir fünf verbrachten die Nächte in unsere schweren Tlamaitin-Mäntel gehüllt oft zitternd vor Kälte und konnten nicht schlafen. Immer und immer wieder hörten wir nachts Bären, Jaguare, Berglöwen oder Océlotl, die neugierig am Rand unseres Lagers herumschnüffelten. Doch sie hielten Abstand, denn Wildtiere haben eine natürliche Abneigung gegen Menschen – jedenfalls gegen lebende. Tagsüber gab es genug anderes Wild – Hirsche, Kaninchen, das Mapáche und das Tlecuáchi mit seinem Beutel. Außerdem fanden wir eine Überfülle eßbarer Dinge – Camótin-Wurzeln, Ahuácatin-Früchte und Mexixin-Kresse. Als Ualiztli das Kraut Camopalxihuitl entdeckte, mischte er es mit dem Fett der erlegten Tiere zu einer Salbe, mit der wir unsere schmerzenden Muskeln einrieben.
G’nda Ké bat ihn um einige der Pflanzen, um sich den Saft in die Augen zu träufeln, denn, so erklärte sie, ›davon werden sie dunkler, leuchtender und schöner‹. Doch der Ticitl lehnte das mit der Begründung ab: »Wer von diesem Kraut zu sich nimmt, kann sehr schnell tot sein. Und ich traue dir nicht.«
Es gab viele Gewässer in diesen Bergen, sowohl Seen als auch Bäche, und ihr Wasser war kühl und süß, und es schmeckte köstlich. Wir hatten keine Netze, um Fische oder Wasservögel zu fangen, doch die Axolotin-Echsen und Frösche waren eine leichte Beute. Außerdem gruben wir nach Amóli-Wurzeln und badeten beinahe jeden Tag, obwohl das Wasser kalt war. Kurzum, wir mußten nie gutes Essen und Trinken entbehren oder auf den Genuß verzichten, uns sauber zu fühlen. Jetzt, da ich den beschwerlichen Weg über die Berge hinter mich gebracht habe, kann ich auch sagen, daß sie einen wunderschönen Anblick boten.
Auf unserer Reise wurden wir in den Dörfern, durch die wir kamen, meist gastfreundlich aufgenommen. Wir hatten für die Nacht ein Dach über dem Kopf, und die Frauen bereiteten für uns viele köstliche Gerichte zu, die wir nicht kannten.
Ualiztli besuchte den Ticitl eines jeden Dorfes und bat ihn um Medikamente und andere wichtige Dinge aus seinen Vorräten. Ualiztli brummte zwar, die meisten dieser hinterwäldlerischen Tíciltin hätten erschütternd altmodische Vorstellungen von ihrer Kunst, doch er war bald wieder mit allem ausgestattet, was er brauchte. Ich machte in jedem Dorf dem Ältesten, dem Häuptling oder Herrn oder wie auch immer er sich nannte, meine Aufwartung. Der größte Teil der Reise führte uns durch die Gebiete der Cora, der Tepehuáne, der Sobaipuri und der Rarámuri. Deshalb waren die Menschen auch so freundlich, denn diese Völker und Stämme hatten schon seit langem mit den Kaufleuten der Azteca und vor dem Untergang von Tenochtitlan auch mit den Fernhändlern der Mexica Handel getrieben. Sie sprachen alle unterschiedliche Sprachen. Wie ich schon erwähnt habe, hatte ich in der Stadt Mexico einige ihrer Worte und Ausdrücke von den Kundschaftern gelernt, die sie ausgeschickt hatten, um Informationen über die Spanier einzuholen, und die mit mir in der Mesón de San José untergekommen waren. G’nda Ké beherrschte dank ihrer ausgedehnten Reisen die vielen Sprachen weit fließender als ich. Deshalb diente sie mir als Dolmetscherin, obwohl ich mich bei keiner wirklich verantwortungsvollen Aufgabe auf sie verlassen wollte.
Meine Botschaft an die Vorsteher der kleinen Gemeinden war immer dieselbe. ›Ich stelle ein Heer zusammen, um die weißen Eroberer zu vernichten!‹ Danach wurde geredet, und ich mußte meinen Plan erklären. Schließlich stellte ich die für mich wichtige Frage: ›Seid Ihr bereit, mir so viele starke, tapfere und wilde Krieger zu stellen, wie Ihr entbehren könnt?‹
Offenbar verdrehte die gehässige G’nda Ké meine Worte beim Übersetzen nicht, denn beinahe alle Gemeindeoberhäupter reagierten bereitwillig und großzügig auf meine Bitte.
Jene, die Kundschafter in die von den Spaniern besetzten Länder im Süden entsandt hatten, kannten bereits anschauliche Augenzeugenberichte von der brutalen Unterdrückung und Mißhandlung der Menschen unseres Volkes. Sie wußten von der Sklaverei in den Obrajes, von den Folterungen, den Auspeitschungen, den Brandmarkungen, von der Demütigung der früher so stolzen Männer und Frauen, denen man eine unverständliche und grausame neue Religion aufgezwungen hatte. Natürlich kursierten diese Berichte unter allen Stämmen, Gemeinschaften und Völkern in der EINEN WELT. Selbst die Nachrichten aus zweiter Hand hatten in
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