Der Sohn des Azteken
Priester. Es gab einen, der jedesmal, wenn er etwas auf sein Zimmer gebracht haben wollte, Yeyac damit beauftragte. Und dann sah man längere Zeit keinen von beiden. Ich nahm Yeyac das alles nicht übel und trug ihm den Vorfall auch nicht nach. Unser Verhältnis war eine Weile gespannt, doch allmählich kühlte die Beziehung einfach ab, und wir waren fortan vielleicht eher betont höflich zueinander. Ich zumindest vergaß die Episode schließlich, bis sehr viel später etwas geschah, das mich wieder daran erinnerte.
Im Laufe der Zeit wuchs mein Tepúli von selbst und war dabei nicht auf fremde Hilfe angewiesen.
In jenen Jahren gewöhnten sich die Azteca an die dicht bevölkerte Welt der Götter, welche die Mexica mitgebracht und denen sie Tempel errichtet hatten. Unser Volk nahm an den Ritualen für diese oder jene Gottheit teil – anfangs glaube ich nur aus Höflichkeit und Achtung vor den Mexica, die jetzt unter uns lebten. Doch mit der Zeit schienen die Azteca festzustellen, daß es ihnen etwas gab – Sicherheit, Erbauung, Trost? Ich weiß es nicht –, wenn sie diese Götter verehrten, sogar jene, die sie früher möglicherweise abstoßend gefunden hätten, etwa den Kriegsgott Huitzilopóchtli und die Wassergöttin Chalchihuítlicué mit ihrem häßlichen Froschgesicht. Mädchen im heiratsfähigen Alter wandten sich an Xochiquétzal, die Göttin der Liebe und der Blumen, damit sie einen begehrenswerten jungen Mann finden und eine gute Ehe führen würden. Bevor unsere Fischer aufs Meer hinausfuhren, beteten sie nicht nur wie gewohnt zu Coyolxaúqui, damit sie ihnen einen guten Fang bescheren möge, sondern sie baten auch Ehécatl, den Windgott der Mexica, darum, keinen Sturm zu schicken.
Niemand erwartete, daß man seine Verehrung auf eine bestimmte Gottheit beschränkte, wie das bei den Christen der Fall ist. Die Menschen wurden auch nicht bestraft, wenn sie, je nach Laune, anstatt zu dem einen Gott zu einem anderen oder zu allen gleichermaßen beteten. Die meisten Azteca verehrten am aufrichtigsten unsere altvertraute Schutzgöttin. Doch hielten sie es für angebracht und ratsam, etwas von dieser Verehrung auf die Mexica-Gottheiten zu übertragen. Zum Teil lag es daran, daß ihnen die neuen Götter und Göttinnen so viele zusätzliche Festtage, eindrucksvolle Zeremonien und Anlässe zum Singen und Tanzen schenkten. Daß viele Gottheiten ihren Tribut in Form menschlicher Herzen und Menschenblut verlangten, schreckte sie gar nicht so sehr ab. Wir führten in jenen Jahren keine Kriege, um Gefangene zu machen, die wir opfern konnten. Doch überraschenderweise herrschte nie Mangel an Menschen, sowohl Azteca als auch Mexica, die bereit waren, freiwillig zu sterben, um die Götter zu nähren und zufriedenzustellen. Die Priester überzeugten diese Leute davon, daß es unverantwortlich sei, sorglos in den Tag hineinzuleben und darauf zu warten, daß sie aus Altersschwäche oder auf normale Weise sterben würden, denn mit dieser Einstellung riskierten sie den Absturz in die Tiefen der Mictlan, den Dunklen Ort, wo sie bis in alle Ewigkeit ohne Freuden, Zerstreuungen, Empfindungen, ja sogar ohne Leiden verharren müßten. Im Gegensatz dazu, so behaupteten die Priester, werde jeder, der sich für den Blumentod entscheide, sofort in das erhabene Reich des Sonnengottes Tonatiu aufgenommen, wo ihn ein ewiges Leben in Glückseligkeit erwarte.
Deshalb boten sich den Priestern viele Sklaven an, denen es gleichgültig war, welchem Gott sie geopfert werden würden, weil sie glaubten, dadurch ihr Los zu verbessern. Doch soviel himmelschreiende Leichtgläubigkeit beschränkte sich nicht auf die Sklaven. Ein freier junger Mann ließ sich bereitwillig töten, damit seiner Leiche die Haut abgezogen wurde, die dann ein Priester trug, um Xipe Totee, den Gott der Aussaat, zu verkörpern und zu ehren. Ein frei geborenes junges Mädchen ließ sich das Herz aus dem Leib schneiden und versinnbildlichte damit den Tod der Muttergöttin Teteoinan bei der Geburt des Maisgottes Centéotl. Eltern boten sogar freiwillig ihre kleinen Kinder als Opfer für Tlaloc den Regengott an, die dann den Erstickungstod fanden.
Ich verspürte nie die Neigung, mich als Opfer darzubringen. Durch den Einfluß meines respektlosen Onkels Mixtzin interessierte ich mich für keinen der Götter und noch weniger für die Priester. Die Priester der neuen Mexica-Gottheiten fand ich besonders abstoßend, denn zum Zeichen ihrer Berufung nahmen sie verschiedene Formen
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