Der Sohn des Azteken
Priester, der sich in alles einmischt!« schimpfte ein Spanier. Nach seiner Kleidung zu urteilen, war er ein Mann von Bedeutung. »Er vergießt Krokodilstränen wegen der grausamen Mißhandlung der Indios. Dabei ist das nur ein Vorwand, um Regeln aufzustellen, die ihm selbst nützen.«
»Richtig«, erwiderte der andere, ebenso reich gekleidete Mann. »Daß er Bischof ist, macht ihn nicht weniger zu einem gerissenen und scheinheiligen Priester. Er weist darauf hin, daß wir diesem Land ein unermeßlich kostbares Geschenk gemacht haben, nämlich die christliche Lehre. Er zieht daraus den Schluß, daß uns die Indios deshalb Gehorsam schulden und jede Anstrengung, die wir aus ihnen herauspressen können. Aber, so sagt er jetzt, wir sollen sie weniger hart arbeiten lassen, besser ernähren, und wir dürfen sie nur seltener prügeln.«
»Oder wir riskieren, daß sie sterben, bevor sie im Glauben gefestigt sind«, sagte der erste Mann, »wie die Indios, die während der Eroberung und an den darauffolgenden Epidemien umgekommen sind. Zumárraga behauptet, er wolle nicht das Leben der Indios retten, sondern ihre Seelen.«
»Was geschieht in Wirklichkeit?« rief der andere Mann und beantwortete seine Frage gleich selbst. »Wir machen sie stark und verwöhnen sie zum Schaden der Arbeit, für die wir sie brauchen. Dann zieht dieser gerissene Bischof sie zur Zwangsarbeit heran. Überall im Land läßt er noch mehr Kirchen und Kapellen bauen, und das ist dann sein Verdienst. Er muß keine Rebellion fürchten, denn jeden Indio, der sein Mißfallen erregt, kann die Inquisition, das heißt Bischof Zurriago, verbrennen.« Zu meiner Freude unterhielten sie sich noch eine ganze Weile. Bischof Zumárraga hatte meinen Vater zum schrecklichen Feuertod verurteilt. Ich wußte, wenn die Männer ihn Bischof Zurriago nannten, sprachen sie seinen Namen nicht falsch aus, sondern verspotteten den Bischof, denn Zurriago bedeutet ›Geißel‹. Pochotl hatte mir erzählt, wie die eigenen Offiziere ihren Oberbefehlshaber, den Marqués Cortés, in Verruf gebracht hatten. Jetzt hörte ich, wie treue Christen ihren höchsten geistlichen Würdenträger verleumdeten. Wenn Soldaten und Bürger offen ihre Abneigung gegen ihre Oberen zum Ausdruck bringen und über sie schimpfen konnten, bewies das nur, daß die Spanier nicht alle einig waren und nicht jeder Herausforderung als eine geschlossene, starke Front begegnen würden. Ihre Herrschaft, der sie sich rühmten, war nicht so gesichert, daß sie unbesiegbar gewesen wären. Ich fand solche Einblicke in spanisches Denken und den spanischen Geist ermutigend und von möglichem Nutzen für die Zukunft. Deshalb lohnte es sich, sie im Gedächtnis zu behalten. An diesem Tag fand ich auf demselben Markt endlich auch die Kundschafter aus Tépiz, die ich schon seit langem suchte. An einem Stand mit geflochtenen Körben aus Binsen und Schilf erkundigte ich mich wie überall bei dem Händler, ob er einen Mann aus Tépiz namens Netzlin kenne oder dessen Frau, die … »Ich bin Netzlin«, antwortete der Mann. Er musterte mich verwundert und leicht beunruhigt. »Meine Frau heißt Citláli.«
»Ayyo, endlich!« rief ich. »Wie schön, wieder einmal die Sprache der Azteca zu hören. Ich heiße Tenamáxtli, und ich komme aus Aztlan.«
»Willkommen, früherer Nachbar!« sagte er und lachte. »Es ist schön, wieder einmal das alte Náhuatl zu hören. Citláli und ich sind seit beinahe zwei Jahren hier. Deine Stimme ist die erste aus unserer Heimat, die ich in dieser Zeit gehört habe.«
»Es mag auch für lange Zeit die einzige bleiben«, sagte ich. »Mein Onkel hat angeordnet, daß niemand aus Aztlan oder den umliegenden Gemeinden etwas mit den Weißen zu tun haben darf.«
»Dein Onkel hat das angeordnet?« sagte Netzlin verwirrt. »Mein Onkel Mixtzin, der Uey-Tecutli von Aztlan.«
»Ayyo, natürlich, der Uey-Tecutli. Ich wußte, daß er Kinder hat. Ich entschuldige mich dafür, nicht gewußt zu haben, daß du sein Neffe bist. Aber warum bist du hier, wenn er den Umgang mit den Spaniern verbietet?«
Ich sah mich um, bevor ich erwiderte: »Darüber würde ich lieber ungestört sprechen, Cuati Netzlin.«
»Ach so!« Er zwinkerte mir zu. »Du bist ein geheimer Späher. Dann komm mit, Cuati Tenamáxtli. Darf ich dich in unser bescheidenes Haus einladen? Warte, ich will meine Sachen einsammeln. Es ist ein ruhiger Tag, da werden vermutlich nur wenige Kunden enttäuscht sein.« Ich half ihm, die Körbe für den Transport
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