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Der Sohn des Azteken

Der Sohn des Azteken

Titel: Der Sohn des Azteken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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ändern, und wir landeten am sumpfigen Ufer des ehemaligen Chapultépec-Parks. Wir stiegen den Hügel hinauf, ohne jemandem zu begegnen, bis das Dach des Castillo vor uns auftauchte. Dann gingen wir geduckt von Baum zu Baum. Schließlich waren wir so nahe, daß wir das Tor und die zahlreichen Menschen sahen, die hineingingen und herauskamen. Ein paar Spanier hielten sich vor dem Tor auf, schlenderten auf und ab oder saßen im Schatten der Palisaden und vertrieben sich die Zeit. Uns hatte bis jetzt niemand bemerkt. Nicht mehr als hundert Schritte vom Tor entfernt erreichten wir endlich den Ahuéhuetl mit dem mächtigen Stamm, den ich bei meinem letzten Besuch ausgewählt hatte, und kauerten uns dahinter.
    »Für die Rekruten scheint es ein ganz gewöhnlicher Tag zu sein«, flüsterte ich, während ich die Arkebuse unter dem Mantel hervorzog und neben mir auf die Erde legte. »Ich sehe keine zusätzlichen Wachposten, niemand wirkt besonders aufmerksam. Je schneller wir es tun, desto besser. Seid ihr beide soweit, Citláli?«
    »Ja«, antwortete sie mit fester Stimme. »Ich habe es dir nicht gesagt, Tenamáxtli, aber wir waren gestern abend zusammen bei einem Priester der gütigen Göttin Tlazoltéotl. Ich habe alle Missetaten meines Lebens gebeichtet, einschließlich dieser, wenn es eine ist.« Sie sah meinen Gesichtsausdruck und fügte hastig hinzu: »Nur für den Fall, daß etwas schiefgehen sollte. Also gut, wir sind bereit.«
    Ich war bei der Erwähnung der Göttin zusammengezuckt, denn üblicherweise ruft man die Unrat-Fresserin nur an, wenn man das Gefühl hat, der Tod sei nahe, um sie dann zu bitten, alle Sünden an sich zu nehmen und zu verschlingen, damit man geläutert und rein in das Leben nach dem Tod eingeht. Doch wenn Citláli sich dadurch besser fühlte …
    »Das Poquietl wird eine Rauch- und Geruchsspur hinterlassen, wenn es brennt«, sagte ich, als ich mit Hilfe meiner Kristallinse und eines Sonnenstrahls das Papier entzündete, das etwas aus dem Korb hervorragte. »Aber es weht ein leichter Wind, und deshalb wird man das kaum bemerken. Wenn jemand etwas riecht, wird er sicher denken, ein paar Rekruten hätten mit ihren Büchsen geübt. Und ich wiederhole noch einmal, das Poquietl wird dir genug Zeit lassen, um …«
    »Gib mir den Korb«, sagte sie, »bevor ich vor Unruhe oder Feigheit davonlaufe.« Sie nahm den Korb am Henkel und griff nach Ehécatls Hand. »Und gib mir einen Kuß, Tenamáxtli, als … als Unterstützung.« Das hätte ich freudig und liebevoll auch ohne ihre Bitte getan. Sie zögerte und blickte um den Baum herum, bis sie sicher war, daß niemand in unsere Richtung sah. Dann trat sie hinter dem Stamm hervor und trat mit dem Kind an der Hand unbeschwert aus dem dichten Baumschatten in das strahlende Sonnenlicht, als seien sie gerade durch den dichten Wald den Hügel heraufgekommen. Ich ließ sie nur so lange aus den Augen, wie ich brauchte, um eine Fingerspitze Schießpulver auf die Cazoleta meiner Arkebuse zu streuen und die Katzenpfote zu spannen. Doch als ich wieder den Kopf hob, sah ich etwas Beunruhigendes.
    Viele der Männer vor dem Tor blickten der hübschen Frau, die sich ihnen näherte, mit einem anerkennenden Lächeln entgegen. Das war nicht ungewöhnlich. Doch dann fiel ihr Blick auf die augenlose Ehécatl, und auf ihre Gesichter trat der Ausdruck ungläubigen Staunens. Die allgemeine Aufmerksamkeit rief auch den Wachposten, der am Tor lehnte, auf den Plan. Er musterte die Näherkommenden, richtete sich auf und trat ihnen in den Weg. Diese Möglichkeit hätte ich voraussehen und Citláli entsprechend vorbereiten müssen.
    Sie blieb vor dem Wachposten stehen. Die beiden wechselten ein paar Worte. Ich vermutete, daß der Mann eine Bemerkung von der Art machte: ›Um Gottes willen, was für eine Mißgeburt hast du bei dir?‹ Citláli würde das nicht verstehen und ihm deshalb auch keine sinnvolle Antwort geben können. Wahrscheinlich erwiderte sie so gut sie konnte, was ich ihr beigebracht hatte: daß sie ihre Cousine, eine Maátitl, besuchen wolle oder daß sie Obst verkaufe.
    Als die hübsche Frau so dicht vor ihm stand, verlor der Wachposten offenbar das Interesse an ihrer mißgestalteten kleinen Begleiterin. Soweit ich aus meinem Versteck erkennen konnte, grinste er und gab einen Befehl, wobei er drohend die Arkebuse hob. Citláli ließ die Hand des Kindes los und gab zu meiner Verblüffung den Korb Ehécatl. Die Kleine mußte ihn mit beiden Händen tragen. Citláli

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