Der Sohn des Azteken
all das widerfahren war. Es gab zum Beispiel die ehemaligen Krieger, denen man das Zeichen ›G‹, und die anderen Sklaven, denen man die Namenszeichen ihrer Besitzer eingebrannt hatte. Da waren die wehrlosen betrunkenen Männer und Frauen, die vor meinen Augen von Wachsoldaten zu Tode geprügelt worden waren. Netzlin war eines dieser Opfer. Ich hatte erlebt, wie das ehemals reine Blut unserer Rasse durch die Bastarde der Spanier und Moros in vielen Abstufungen der Hautfarbe verändert, beschmutzt und entehrt worden war.
Außerdem kannte ich – zu meinem Glück kann ich sagen nicht aus eigener Erfahrung, sondern durch die Berichte der wenigen Männer, denen die Flucht gelungen war – die Schrecken der Obrajes. Das waren riesige, von hohen Mauern umgebene Hallen mit Eisentoren, in denen Baumwolle und Wolle gewaschen, gekrempelt, gesponnen, gefärbt und zu Tuchen gewebt wurde. In diesen Werkstätten der spanischen Corregidores zog man aus der Arbeit verurteilter Verbrecher – natürlich nur Indios – beispiellose Gewinne. Wer von uns gegen die Gesetze verstieß, wurde nicht eingesperrt und zur Untätigkeit verdammt, sondern mußte schmutzige, trostlose und schwere – für einen Mann erniedrigende – Arbeiten verrichten. Die Zwangsarbeiter erhielten keinen Lohn. Sie hatten nur armselige Unterkünfte und durften keinen Augenblick allein sein. Sie wurden schlecht ernährt, kaum gekleidet, konnten sich niemals waschen und durften die Obraje vor Ablauf ihrer Strafe nicht verlassen. Wenige hielten lange genug durch, um das zu erleben.
Die Obrajes machten derartig große Gewinne, daß selbst spanische Bürger solche Werkstätten unter eigener Führung errichteten. Den Besitzern überließ man großzügig staatliche Gefangene als Arbeitskräfte, bis es schließlich nicht mehr genug Gefangene gab. Danach überredeten die Spanier unsere Leute, ihnen ihre Kinder zu übergeben. Die Weißen versprachen den Eltern, die Jungen und Mädchen würden ein Handwerk erlernen, das sie im späteren Leben ausüben könnten. Die Eltern sparten dadurch die Kosten für den Unterhalt ihrer Sprößlinge. Schlimmer war jedoch, daß sich die Äbte und Äbtissinnen christlicher Waisenhäuser, wie das Refugio de Santa Brígida, bereit fanden, die Kinder unseres Volkes, sobald sie alt und verständig genug waren, vor die Wahl zu stellen, entweder das Gelübde abzulegen, Mönch oder Nonne zu werden, oder in einer Obraje zu leben und zu arbeiten. Mischlingswaisen wie Rebeca Canalluza blieb dieses Schicksal erspart, denn das christliche Waisenhaus mußte damit rechnen, daß eines Tages der spanische Elternteil erschien, das Kind anerkannte und zu sich nahm.
Ganz gleich, ob die versklavten Verbrecher zu Recht oder zu Unrecht verurteilt worden waren, bei ihnen handelte es sich um erwachsene Männer. Die zwangsverpflichteten Waisen und ›Lehrlinge‹ waren das nicht. Doch wie die verurteilten Verbrecher wurden diese Jungen und Mädchen nie mehr außerhalb der Tore der Obrajes gesehen. Man zwang sie mitleidslos zu härtester Arbeit, die sie oft nicht lange überlebten. Sie mußten Tag für Tag Erniedrigungen und Schändungen über sich ergehen lassen, die den erwachsenen Männern erspart blieben. Aufseher und Wächter der Obrajes waren nicht die spanischen Besitzer, sondern schlecht bezahlte Moros und Mulatos. Diese Kreaturen stellten ihre Überlegenheit dadurch zur Schau, daß sie die Kinder schlugen und hungern ließen. Sie zwangen die Mädchen zu Ahuilnéma und die Jungen zu Cuilónyotl. Die christlichen Corregidores und Alcaldes, die christlichen Besitzer der Obrajes und die zum Christentum übergetretenen einheimischen Tepisquin steckten bei den Greueln alle unter einer Decke. Die christliche Kirche duldete stillschweigend solche Unmenschlichkeiten. Natürlich dachten die Weißen dabei nur an die Vergrößerung ihrer Macht und ihres Reichtums. Es gab jedoch noch einen anderen Grund, der den Weißen als Vorwand diente, uns zur Zwangsarbeit zu verurteilen. Die Spanier waren der Überzeugung, unser Volk bestehe nur aus faulen Herumtreibern, die nicht arbeiten würden, wenn ihnen nicht Strafen, Hunger oder ein gewaltsamer Tod drohten.
So war es nicht und war es nie gewesen. Früher hatten arbeitsfähige Männer und Frauen auf Befehl ihrer Herren – entweder der ortsansässigen Adligen oder der Verehrten Sprecher – zum Teil schwere körperliche Arbeiten unentgeltlich verrichtet. Häufig handelte es sich um öffentliche Bauvorhaben. In dieser
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