Der Sohn des Bannsängers
abzuschätzen. »Wir müssen einfach!«
In diesem Moment zerriß ein unheimlicher Schrei die vorbeirauschende Luft. Er stammte nicht von seinen Kameraden, sondern kam von unten. Es war kein Wunder, daß er den Urheber nicht sogleich erkannte, Er hatte schließlich noch nie ein Nashorn schreien gehört.
Snaugenhutt hatte sich ausgerechnet diesen Moment zum Aufwachen ausgesucht.
»Alles in Ordnung.« Buncan neigte sich zur Seite und beugte sich möglichst weit vor. »Wir sind fast da!«
»Fast wwwo?« Snaugenhutt nuschelte nicht, seine Stimme war nicht in Mitleidenschaft gezogen. Als Vertreter einer ausgesprochen bodenständigen Gattung hatte ihn die Tatsache, daß er sich plötzlich und unerwartet mitten in der Luft wiederfand, auf einen Schlag stocknüchtern werden lassen.
»Das Tor!« rief ihr Reitvogel. »Wir sind gleich am Tor!«
So verzerrt sie auch sein mochte, die Stimme des Vogels war dennoch wiederzuerkennen. Snaugenhutts Kopf ruckte auf und ab.
»Viz?«
»Ja, ich bin's, du nutzloser alter Säufer. Ich frag mich bloß, warum ich dich so lange mitgeschleppt habe.«
»Tut mir leid. Keine Ahnung, was mit mir passiert ist.«
»Ich schon. Ich brauch dich bloß mal 'nen Moment aus den Augen zu lassen, und schon ist unser bißchen Ruf im Eimer. Aber das da vor uns ist Krasvins Landsitz. Gleich wirst du Gelegenheit haben, dich zu bewähren. Ob du nun willst oder nicht.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, daß der Zauberspruch, der mich verwandelt hat, rasch an Wirkung verliert, darum müssen wir möglichst unbemerkt hinter die Mauer gelangen, und dazu brauchen wir eine Ablenkung. Eine große Ablenkung.«
Snaugenhutt senkte mißtrauisch die Lider. »Was für eine ›Ablenkung‹ ?«
In diesem Moment ertönte am Nachthimmel über dem stillen Wald westlich von Camrioca ein unglaublicher Schrei, der sich zu Lebzeiten der in unmittelbarer Nähe befindlichen Zuhörer kaum wiederholen würde. Und auch nicht woanders.
»Nashorn looos!«
»Neiiiin!« heulte Snaugenhutt, als sich die riesigen Klauen öffneten und Viz seine Last freigab.
Während der verwandelte Vogel sich mit neuem Elan emporschwang, beschrieb das entsetzte Nashorn eine elegante Fallkurve und stürzte mit dem Horn voran in einem flachen Bogen dem hohen, zweiflügligen Tor entgegen. Auf dem Mauergang bemerkten zwei von Krasvins Leibgardisten den schwarzgepanzerten, mit Flammen bemalten Koloß, der aus dem Halbmond hervor auf sie zugerast kam. Einer brach auf der Stelle ohnmächtig zusammen, während der andere mit geziemender Schnelligkeit auf den Hof hinunter sprang.
Mit flatternden Wimpeln und wehenden Bändern krachte der gußeisengepanzerte Snaugenhutt mit gewaltiger (wenn auch eindeutig unfreiwilliger) Wucht mitten aufs Tor. Bretter und Querverstrebungen flogen explosionsartig davon. Mit scheppernder und klirrender Rüstung, die sich anhörte wie eine rasende Militärkapelle, schlitterte Snaugenhutt auf den Hof, überschlug sich dreimal und landete schließlich, wenn auch benommen taumelnd, auf den Füßen. Zum Glück mußte er sich nicht sogleich irgendwelchen Gegnern stellen, da die entsetzte Patrouille in kopfloser Flucht auseinandergestoben war.
Es beruhigte ihn, zu sehen, daß sie die Waffen von sich warfen, als sie in Türen und um Ecken herum verschwanden, und allmählich bekam er wieder einen klareren Kopf. Der Staub vom zerstörten Tor setzte sich immer noch ab, als Snaugenhutt langsam vorrückte, wobei die Überreste zerbrochener Balken und zerschmetterter Bretter von seinem breiten Rücken rutschten.
Als sie sich mit dem unglaublichen, furchterregenden Anblick eines gepanzerten, flammenumloderten, fliegenden (na ja, vom Himmel fallenden) Nashorns konfrontiert sahen, suchten auch diejenigen Gefolgsleute des Barons, die nachsehen wollten, was passiert war, augenblicklich ihr Heil in der Flucht.
»Kommt zurück und kämpft!« brüllte Snaugenhutt voller Verachtung. »Feiglinge, rückgratlose Reptilien! Bleibt stehen und wehrt euch!« In seinen Adern kreiste eine solche Menge Adrenalin, daß er mit allen vieren auf der Stelle hüpfte, wobei er einen ähnlichen Lärm veranstaltete wie ein Steinbrecher des berühmten Bergwerks von Caqueriad.
Und so war es nicht verwunderlich, daß keiner von Krasvins Mannen auf sein Angebot einging.
In diesem Augenblick tauchte der Baron persönlich im Haupteingang des Landsitzes auf, seine Gefolgsleute wie Schildfische im Schlepptau. Der Anblick des gepanzerten, schnaubenden vierbeinigen
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