Der Sohn des Haeuptlings
„Heute haben wir doch noch Montag, oder?“
„Ja, das stimmt“, meinte Herr Kubatz, der zusammen mit dem Kriminalkommissar an einem runden Tisch mit einer Marmorplatte wie in einem Schaufenster vor einer großen Glasscheibe saß.
„Dann ist der Professor jetzt schon genau eine ganze Woche verschwunden“, sagte Frau Bandel. „Und immer noch keine Spur.“ Sie blickte nachdenklich und ohne Vorwurf zu dem Kriminalkommissar hinüber, der so lang und elegant wie immer mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Stuhl saß. Aber inzwischen hatte sie ihn ja gut genug kennengelernt, wußte, wie er sich in den Fall verbissen hatte und daß er von frühmorgens bis in die Nacht unterwegs war.
„Meine weißen Mäuse und die Meerschweinchen warten“, meinte sie noch und brauste kurz darauf in ihrem Sonnenblumenwagen zur Haselnußstraße.
„Eine patente Person“, bemerkte Kriminalkommissar Roland, nahm aus seinem unerschöpflichen Vorrat eine von den kleinen schwarzen Zigarren und fuhr nach einer Weile fort: „Es ist um auf die Bäume zu klettern, aber manchmal habe ich das Gefühl, als hätte ich Kleister unter den Schuhsohlen. Ich versuche weiterzukommen und trete immer nur auf der Stelle.“
„Keine Fingerabdrücke im Haus gefunden?“ fragte der Chefredakteur und flüsterte plötzlich unbewußt.
„Nur die von Frau Bandel und von Professor Keller“, antwortete der Kommissar. „Von ihr haben wir sie auch selbst zum Vergleich abgenommen, und vom Hausherrn fanden wir sie hauptsächlich im Laboratorium, aber eigentlich überall.“
„Und das Resultat der Kugeluntersuchung?“ fragte jetzt Herr Kubatz.
„Das Projektil stammt aus einer Pistole, die man bis vor einem halben Jahr noch ohne Waffenschein kaufen konnte“, erwiderte Herr Roland. „Unsere Ballistik hat mich mit Fotos über Markierungen eingedeckt, die der Lauf der Waffe hinterlassen hat. Aber das hilft mir wenig, solange die Waffe nicht gefunden ist.“
„Was weiter?“
„Was weiter“, wiederholte Kriminalkommissar Roland. „Wir haben uns die gesamte Nachbarschaft vorgeknöpft. Natürlich kommt, wie immer, wenn man durchs Mikroskop guckt, bei jedem irgendwas heraus. Der brave Zigarrenhändler Bemmelmann ist zum Beispiel vorbestraft. Aber die Sache liegt schon vierzig Jahre zurück. Da hat er sich als Lehrling mal aus der Portokasse bedient. Bademeister Pohmann hat sein Konto bei der Bank überzogen und von Baufirmen schon zwei Zahlungsbefehle kassiert. Der bestimmt gut verdienende Rechtsanwalt Doktor Semmelroth hat sich im Winter, um Geld zu sparen, durch Schwarzarbeit sein Auto lackieren und komplett überholen lassen. So könnte ich Ihnen noch eine Geschichte nach der anderen erzählen. Aber im Grunde sind es alles kleine Fische, die mich keinen Zentimeter weiterbringen.“
„Gespannt, was Sie bei mir entdecken würden?“ fragte Herr Kubatz.
„Seien Sie lieber nicht gespannt“, entgegnete der Kriminalkommissar und feixte. „Völlig blütenweiße Westen sind Mangelware.“
„Das Haus haben Sie sich auch noch einmal vorgenommen, hörte ich?“ fragte der Chefredakteur, ohne auf die Bemerkung seines Tischnachbarn einzugehen.
„Vorgenommen ist gut“, erwiderte der Kriminalkommissar. „Wir haben es geradezu auseinandergenommen. Natürlich auch den Keller, den Garten und die Garage mit dem zitronengelben Pritschenwagen. Nichts. Nur Fehlanzeige. „
„Hat der Professor eigentlich Angehörige?“
„Nur einen zwei Jahre älteren Bruder, der vor zwölf Jahren nach Argentinien ausgewandert ist“, gab Herr Roland zur Antwort. „Der letzte Brief, den wir von ihm vorgefunden haben, liegt fünf Jahre zurück.“
„Und falls der alte Herr doch nur überraschend auf eine Reise gegangen ist“, warf der Chefredakteur ein. „Kann er von unterwegs zu Hause anrufen und sich melden?“
„Sein Anschluß ist auf die Revierwache umgelegt“, antwortete Herr Roland. „Aber an eine freiwillig angetretene Reise glaube ich nicht.“
„Also Entführung?“
„Dann hätte man sich inzwischen gemeldet und ein Lösegeld verlangt oder dergleichen.“
„Aber an Mord denken Sie auch noch nicht?“ fragte Herr Kubatz.
„Es gibt noch andere Möglichkeiten“, sagte der Kriminalkommissar nachdenklich und ein wenig geheimnisvoll.
„Sie haben also bisher überhaupt keinen Verdacht?“
„Ich verdächtige niemanden und jeden“, antwortete der Kriminalkommissar.
Wer durch die große Fensterscheibe in die Milchbar hineingeblickt hätte,
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