Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
Yaman ließ sie absitzen. Eine Weile zogen sie ihre widerstrebenden Tiere noch hinter sich her, aber dann versank die Welt in gelber Dunkelheit. Nyet hatte sie erreicht. Bald konnten sie kaum noch zehn Schritte weit sehen. Eine Weile kämpften sie dagegen an, quälten sich und ihre Tiere, dann gab der Yaman auf. Sie zogen die Pferde in eine Dünensenke. Mehr Schutz gab es hier nicht. Sie zwangen ihre Pferde, sich hinzulegen, streckten sich daneben aus, deckten sich und den Kopf ihrer Tiere mit ihren schwarzen Umhängen zu und ergaben sich der Gewalt des Windes.
Annähernd drei Stunden wütete Nyet, dann endlich war er vorüber. Awin hatte Mühe, seinen Umhang anzuheben, so schwer lag der Sand auf ihm. Sein Falbe sprang auf und schüttelte sich. Rings um ihn herum krochen Männer aus dem Sand. Eris Pferd ging durch, als es endlich aufstehen durfte. Fluchend stolperte der Knabe hinterher. Niemand lachte. Die Krieger schüttelten Sand aus ihren Kleidern, ihren Haaren, und sie spuckten sogar Sand aus. Der Yaman sah bedrückt aus. Er klopfte sich mit geradezu übernatürlicher Ruhe den Staub aus der ledernen Rüstung. Der Sturm hatte alle Spuren verweht. Vielleicht waren sie dem Fremden schon sehr nahe gekommen, doch jetzt konnte er überall sein. Oder?
»Es gibt keinen Grund zu verzagen, ihr Männer!«, rief Curru. »Slahans Sturm hat den Feind ebenso aufgehalten wie uns.«
»Und wie sollen wir ihn finden, alter Freund?«, fragte der Yaman mürrisch. »Er kann überall sein.«
»Er ist ein Mensch, also braucht er Wasser, ebenso wie seine Tiere. Er wird zum Knochenwasser reiten. Dort werden wir seine Spur wieder aufnehmen.«
»Und wenn er einen Haken schlägt? Wenn er nach Süden oder Norden ausgewichen ist?«
»Ich kann kein Zeichen dafür sehen, Yaman. Hat er bisher einen Versuch unternommen, uns zu täuschen? Er weiß wohl gar nicht, wie dicht wir ihm auf den Fersen sind. Glaube mir, er will zur Wasserstelle.«
Awin lag der Widerspruch auf der Zunge. Der Feind war gerissen und kaltblütig. Warum hätte er die Richtung wechseln sollen, wenn der Sand doch seinen Weg verriet? Aber jetzt war alles anders. Der Sturm hatte sich lange genug angekündigt. Er gab ihm die vollkommene Gelegenheit, alle Verfolger in die Irre zu führen, und gerade, weil er bislang keine Haken geschlagen hatte, war sich Awin sicher, dass er es jetzt tun würde. Aber wohin wollte der Feind? Wollte er nach Süden oder nach Norden? Oder änderte er zweimal die Richtung und ging doch nach Westen? Das konnte er nicht sagen. Und da er sich seiner Sache nicht sicher war, zumindest nicht sicher genug, um es sich deswegen mit Curru zu verderben, schwieg er. Vielleicht würde ihnen Tengwil, die Schicksalsweberin, ein Zeichen senden, das ihnen die Augen öffnete oder das wenigstens Curru dazu brachte, seinen Standpunkt zu überdenken. Solange es dieses Zeichen aber nicht gab, würde er weiter darüber nachgrübeln. Vielleicht kam er dem Feind ja so wieder auf die Schliche.
Sollte ihm das nicht gelingen, war Currus Rat gut, das musste er sich eingestehen: Der Weg zum Knochenwasser war der vernünftigste,
den sie einschlagen konnten. Wenn der Feind durch die Slahan wollte, musste er seine Pferde dort tränken, sonst würde er es nie durch die Wüste schaffen. Fanden sie dort keine Spur von ihm, wussten sie wenigstens sicher, dass er nicht zu den Budiniern wollte. Auf Mewes Vorschlag hin ließ Yaman Aryak die Reiter ausschwärmen. Sie bildeten eine lange Kette, einer gerade noch in Sichtweite des anderen. Es erhöhte ihre Aussichten, die Fährte vielleicht doch noch zu finden. Und so zogen sie schweigend, jeder für sich, durch die sengende Hitze.
Sie ritten Stunden ohne Rast, doch die Spur blieb verloren. Allmählich änderte sich die Landschaft. Die Dünen wurden flacher, und einzelne Felsen wuchsen aus dem Sand. Hier und dort zeigten sich erste graue Grashalme. Dann folgte dorniges Buschwerk. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie sich dem Knochenwasser näherten. Der Yaman rief die Krieger wieder zusammen. Awin fühlte sich wie zerschlagen. Seit dem Morgengrauen waren sie nun unterwegs. Und die Zwangspause im Sturm, in der es mehr Staub als Luft zum Atmen gegeben hatte, konnte nun wirklich nicht als Rast zählen. Es ging schon auf den Abend zu.
»Männer, ich weiß, das war ein langer Ritt. Aber vergesst nicht, weshalb wir hier sind, und denkt daran, dass auch der Feind Nyets Angriff aushalten musste. Vor uns liegt das Knochenwasser.
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