Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
Erschlagenen, so nannten sie die Budinier, und die meisten hastig ausgehobenen Gräber fanden sich entlang des alten Pfades. Der Fremde mied ihn jedoch. Er hatte den kurzen Weg mitten durch das Sandmeer eingeschlagen. Bald ritten sie durch das ewige Auf und Ab der Sanddünen, die hier langsam, Handbreit um Handbreit, von West nach Ost wanderten. Nach einer Weile stießen sie auf eine Feuerstelle. Mewe verkündete, dass der Verfluchte hier wohl zwei bis drei Stunden geruht haben musste. Eine Nachricht, die ihnen sehr willkommen war und mit Jubel aufgenommen wurde. Der Yaman mahnte zur Ruhe. In der Slahan trug der Schall weit,
und der Feind durfte sie doch auf keinen Fall vor der Zeit hören oder sehen.
»Das Erste, was er hört, sollte das Sirren meines Pfeiles sein, der sein Leben beenden wird«, sagte Karak leise, als er wieder neben Awin ritt.
Awin nickte. Der Gedanke gefiel ihm.
»Ich glaube, wir werden ihn bald haben, was denkst du?«, fragte Karak.
Awin dachte an das, was Curru in der Nacht gesagt hatte. Er sollte sich mit Vermutungen vielleicht lieber zurückhalten. Also zuckte er nur mit den Schultern.
»Siehst du denn keine Zeichen?«, fragte der Sohn des Bogners weiter.
Awin blickte auf. Er hatte sich während des Rittes gar nicht um Zeichen gekümmert. Sie hatten eine Fährte, die deutlich vor ihnen durch den Sand lief. Was brauchte es mehr? Er sah sich um. Kein Wölkchen trübte den Himmel, kein Vogel zeigte sich, nicht einmal ein Geier. Awin hörte das leise Schnaufen der Pferde und ihre Tritte im tiefen Sand. Es war alles ruhig. Das gefiel ihm nicht.
»Sieht es denn nicht gut aus?«, fragte Karak nach. »Sogar Skefer hat doch von uns abgelassen.«
Awin durchfuhr eine böse Ahnung. Er zog am Zügel und hielt seinen Falben an. »Pass doch auf!«, rief Mabak, der Enkel des dicken Bale, der hinter ihm ritt.
Auch Karak hielt sein Pferd nun an. Tuge, der wieder die Führung der Jungkrieger übernommen hatte, bemerkte die Unruhe und wendete sein Pferd.
»Was ist, junger Seher?«, fragte er besorgt. »Hat sich dein Falbe verletzt?«
Awin blickte nach vorn. Curru ritt neben dem Yaman. Vielleicht wäre es klüger, es ihm zuerst zu sagen, aber dieses Zeichen
war so offensichtlich, dass er es doch schon selbst bemerkt haben musste. »Skefer ruht«, verkündete er.
Der Bogner starrte ihn an.
»Dein Sohn Karak hat mich darauf hingewiesen«, fuhr Awin fort. »Es geht kaum ein Windhauch, aber es ist auch nicht Dauwe, der Bruder Skefers, der uns mit Windstille und Luftspiegelungen zu täuschen versucht.«
Der Bogner kniff den Mund zusammen. »Du hast Recht. Ich spüre schon seit einer Weile meine alte Pfeilwunde und habe sie nur nicht beachtet. Verdammt seien Skefer und seine Verwandtschaft. Ich werde es dem Yaman sagen.« Dann wendete er seinen Braunen und jagte ihn nach vorn. Awin blickte ihm nach. Es war wohl zu spät, ihn zu bitten, seinen Namen aus dieser Geschichte herauszuhalten.
»Was ist denn los?«, fragte Karak, als Awin seinen Platz in der Reihe wieder einnahm. Vorne berichtete der Bogner dem Yaman. Der Zug geriet ins Stocken. Curru und der Yaman warfen einen langen Blick zurück. Dann gab Aryak das Zeichen zum Galopp.
Awin erklärte es seinem Nachbarn: »Der Wind, der sich in den Sand schlafen legt, steht oft als Sturm wieder auf.« Es war eine der alten Seherweisheiten, aber eine der wenigen, von deren Wahrheit Awin überzeugt war. Sie lebten lange genug am Rande der Wüste, um zu erkennen, wann ein Sandsturm bevorstand.
»Es gibt einen Sturm?«, rief Karak, als sie durch den tiefen Sand jagten.
»Schon bald«, rief Awin zurück.
Schnell wurden die Zeichen unübersehbar, denn im Südwesten verfärbte sich der Himmel fahlgelb. Sie hetzten weiter der Fährte hinterher. Sie war leicht zu verfolgen. Drei Pferde, die im Schritt die Dünen entlanggezogen waren. Der Feind hatte viel von seinem Vorsprung eingebüßt und war ihnen nun
nur noch drei, vielleicht vier Stunden voraus, aber die Zeit war gegen sie. Der gelbe Himmel wurde dunkler und dunkler. Und dann schickte die Wüste Nyet, den Angreifer, den stärksten der fünf verfluchten Winde. Sie sahen ihn schon von weitem. Er kam in Gestalt einer breiten Wolke rötlich gelben Staubs, die über den Sand heranrollte. Der Yaman trieb sie weiter zur Eile, aber dieses Rennen konnten sie nicht gewinnen. Der Sandsturm kam ihnen entgegen. Windböen gingen ihm voraus und quälten Mensch und Tier mit tausendfachen Nadelstichen. Das Atmen fiel schwer. Der
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