Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
Herz geworden sein, wenn sie bereit ist, die eigene Nachkommenschaft auf dem Altar ihrer Regeln und Gesetze zu opfern.«
»Du lügst!«, stieß Awin hervor. Er konnte - er wollte - ihr nicht glauben. Senis sollte Merege und ihn kaltblütig der tödlichen Gefahr eines Kampfes mit Slahan ausgesetzt haben? Das war unvorstellbar!
Norgis setzte ein Lächeln auf, so fein wie die Schneide eines Messers: »Du nennst mich eine Lügnerin, junger Seher, aber du bittest mich dennoch um meine Hilfe?«
Awin biss sich auf die Lippen. Es nutzte ihm nichts, wenn er diese Frau kränkte. Sie war gefährlich, Raiwe hatte das erfahren müssen. Aber konnte er wirklich die Mörderin seines Gefährten um Hilfe bitten? Der Mann hatte doch ebenso unter Awins Führung gestanden wie unter der von Yaman Jeswin. Er war für ihn verantwortlich gewesen. Aber er wusste auch, dass er jede Hilfe annehmen musste, die er bekommen konnte. Er musste das Ende der Welt abwenden, koste es, was es wolle. Er würde sich auf einen Pakt mit dieser Frau einlassen. Er sagte: »Ja, ehrwürdige Norgis, wenn du mir meine Sehergabe wieder verschaffen kannst, dann bitte ich dich, dies zu tun.«
»Und was gibst du mir dafür?«, fragte sie gelassen.
Awin öffnete den Mund, doch zunächst wusste er nicht, was er sagen sollte. Sie verlangte etwas für ihre Hilfe? Dann schüttelte er den Kopf. Diese Zauberin hatte nicht das Recht, etwas von ihm zu verlangen. Er rief: »Ist es nicht genug, dass ich versuche, alle Menschen, also auch dich und dein Volk, vor dem drohenden Verhängnis zu bewahren, ehrwürdige Norgis? Reicht es nicht, dass mein Gefährte Raiwe sein Leben für dich lassen musste?«
Norgis trat einen Schritt zurück und starrte ihn mit ihren unheimlichen Augen an. Offenbar war es ihm gelungen, sie zu überraschen. Dann lächelte sie wieder. »Ich sehe, du hast gelernt, wie du mit uns Mächtigen umzugehen hast. Nun, du
wirst etwas opfern müssen, um wiederzuerlangen, was verloren ist.«
»Und wenn ich mich weigere? Wenn ich mich nun umdrehe und gehe?«
»Der Weg steht dir offen, Seher«, sagte Norgis kühl. »Aber du wirst ihn nicht nehmen.«
Awin biss sich auf die Lippen. Sie hatte Recht. Diese Gelegenheit konnte er sich nicht entgehen lassen. Aber was, wenn sie ihn betrog? »Und du kannst mir meine Gabe wiedergeben?«, fragte er zögernd.
»Ein winziger Funke davon ist noch in dir und hält die Verbindung zu dem, was dir genommen wurde. Ich kann dafür sorgen, dass sich die Leere, die diesen Funken umgibt, wieder füllt. Doch sei gewarnt, all diese Bilder und Träume gleichen einem breiten Fluss, den der Seelenverweser nur daran hindert, zu dir zu kommen, wie ein Damm, der ein Gewässer staut. Fällt dieser Damm, wird sich der Fluss wie ein reißender Strom in dich ergießen. Du wirst vielleicht mehr sehen, als du ertragen kannst, Seher. Es ist gefährlich für deinen Geist.«
»Ich bin bereit, das Wagnis einzugehen, ehrwürdige Norgis.«
»Wirklich?«, fragte sie spöttisch. »Und du wirst geben, was erforderlich ist? Es muss etwas - oder jemand - sein, der dir am Herzen liegt.«
Awin stieß hervor: »Aber keinen meiner Gefährten! Auch nicht Merege oder Wela!«
Norgis runzelte ihre so unnatürlich glatt und jung wirkende Stirn, aber dann nickte sie.
»Und auch die Akradhai von dem Hof im Wald wirst du verschonen!«, fügte Awin schnell hinzu.
Die Behüterin zögerte, aber dann sagte sie: »Sie seien für diesen Sommer verschont. Wir werden etwas anderes finden.«
Er blickte in ihre tief liegenden, gelben Augen und versuchte, ihre Gedanken zu erraten. Es gelang ihm nicht. »Dann will ich es wagen«, erklärte er. Was blieb ihm übrig, da diese Frau, die viel mächtiger und stärker war als er selbst, jede andere Hilfe verweigerte?
»Dann komm in mein Haus, tapferer Hakul. Wir müssen dich vorbereiten.«
Das »Haus« entpuppte sich als dunkler und kalter Verschlag. Es roch modrig, Wasser tropfte von dem nackten Felsen, der die Rückwand bildete, und sammelte sich in kleinen Pfützen auf dem Boden. Es gab keine Fenster, und als Norgis die schwere Tür hinter ihm schloss und verriegelte, drang Licht nur noch durch die zahllosen Spalten zwischen den unbehauenen Stämmen ein. Ein schwaches Feuer glomm zwischen einigen Feldsteinen, und der Rauch zog träge durch die Ritzen davon. Awin fragte sich, wie es ein Mensch in dieser trostlosen Behausung aushalten konnte. Drei Krähen hockten unter dem Dach, und große Käfer und Eidechsen hasteten davon,
Weitere Kostenlose Bücher