Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
sie, und dann zog sie den Dolch durch die eigene Hand und ließ einige Tropfen in den Kessel fallen.
Sie schaute lange hinein, dann sagte sie: »Du wärest schon ein würdiger Bräutigam, junger Hakul.«
Awin wollte aufstehen, aber die Beine versagten ihm den Dienst, dabei hatte er noch gar nichts von dem Gebräu getrunken!
»Aber du atmest es ein«, erklärte Norgis ruhig. Sie nahm eine grob geschnitzte hölzerne Schale, schöpfte aus dem Kessel und nahm einen kleinen Schluck. Dann trat sie zu Awin, drückte ihm rüde den Kopf in den Nacken und flößte ihm wie einem kranken Kind den Trank ein. Er brannte wie Feuer in der Kehle. Awin wollte nicht schlucken, aber die harte Hand der Behüterin ließ ihm keine Wahl. Erst als er die Schale geleert hatte, ließ sie ihn endlich los. Hustend rang er nach Luft.
Ungerührt setzte Norgis sich ihm gegenüber auf den Boden, zog die Flöte hervor und begann darauf zu spielen. Leise Töne erfüllten den Raum. Awin dachte an die Töne im Nebel und die Wölfe, die zuerst nur er allein gehört hatte. Hatte Norgis ihn damit gelockt?
Norgis setzte die Flöte ab. »Vertreibe diese Gedanken, Seher. Sammle dich, denn du wirst all deinen Mut und deine Kraft brauchen. Und was auch geschieht - du musst schweigen. Überlasse mir das Reden.« Dann spielte sie weiter.
Die Töne lullten Awin ein. Ihm fielen die Augen zu. Einmal drang aus der Ferne ein durchdringender, unmenschlicher Schrei zu ihm durch. Er riss die Augen auf, und es wurde ihm bewusst, dass er keine Ahnung hatte, was er tun sollte. Norgis war bei ihm. Sie hatte aufgehört zu spielen, und ein großer kupferner
Kelch stand vor ihr. Er war mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt. Hatte er eben schon dort gestanden? Die Flöte begann erneut ihr schwermütiges Spiel. Awin schwitzte, die Schwaden aus dem Kessel machten ihm das Atmen schwer. Seine Sinne schienen geschärft. Er roch den Sauerampfer jetzt so stark, als stecke er ihm in der Nase, er schmeckte Blut und fremde Kräuter auf der Zunge, und er hörte das leise Trippeln der Käfer über den Lehmboden und das Zirpen weit entfernter Zikaden. Dann setzte die Flöte aus. » Uqib Jega «, hauchte eine Stimme. » Uqib Akuna! « Dann ging sie in unverständliches Murmeln über. Awin blinzelte. Merege? , dachte er.
Aber es war nicht Merege, das wurde ihm im nächsten Augenblick wieder klar, und er kämpfte gegen die Verwirrung an, die seinen Geist zu befallen schien.
»Wehre dich nicht, Seher, lass es geschehen«, befahl eine Stimme und verfiel dann wieder in geheimnisvolles Murmeln.
Awin blinzelte. Er konnte nicht klar sehen. Der Boden schien zu zittern. Ein seltsamer Geruch nach Tod wehte von irgendwo heran. Die Krähen unter dem Dach krächzten unruhig. Etwas geschah. Awin bemerkte ein Flimmern in der Luft, hinter dem Norgis’ Umrisse zu verschwimmen schienen. Dann wurde es plötzlich dunkel und eiskalt. Ein Schemen nahm rasch Gestalt an und füllte als riesiger, schwarzer Umriss den Raum aus. Er verharrte einen Augenblick, dann begann er zu wittern, sich schnüffelnd nach allen Seiten zu drehen. Seelenlose Augen blickten Awin durchdringend an - und wandten sich plötzlich wieder ab. Awins Herz setzte für einen Schlag aus. Uqib - der Seelenverweser - war in Norgis’ Hütte eingedrungen!
»Ich grüße dich, Diener Uos«, rief eine feste Stimme.
»Wer hat mich gerufen?«, zischte der Seelenverweser wütend.
»Ich bin eine Tochter der Ani. Gib zurück, was du dem Sterblichen genommen hast. Das verlange ich!«
Der Seelenverweser drehte sich auf der Stelle, schnüffelte misstrauisch in alle Richtungen und verharrte. »Was mischst du dich da ein, Riesentochter? Er soll sich zeigen. Der Mensch hat gegeben, nur er kann zurückfordern!«
»Du bist schlau, Uqib. Du weißt, dass er das nicht kann, solange dein Bann wirkt. Aber er ist hier, und ich spreche für ihn. Hier ist frisches Blut. Gib die Gabe zurück und es gehört dir.«
Da war eine zweite Gestalt, hell und mit schwarzen Linien geschmückt. Sie hielt einen Kelch in der Hand. Awin hörte die Balken der Hütte knirschen. Staub rieselte herab. Der Seelenverweser wandte sich immer schneller nach allen Seiten. Wieder zischte er. »All diese Bilder, all diese Welten, die ich sehe. Nein, ich will es nicht zurückgeben, nicht für alles Blut der Welt!« Er richtete sich zur vollen Größe auf, und die Schatten, in die er gehüllt war, entfalteten sich wie riesige Flügel. Awin sah schwarze Funken stieben, als sie in der
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