Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
können wir aufbrechen?«, fragte er die Kariwa.
»Die Fischer brauchen Zeit, die Boote vorzubereiten, so dass wir wohl erst morgen früh mit der Flut in See stechen können.«
»Also müssen wir doch hier lagern«, stellte Jeswin mit wenig Begeisterung fest.
»Und ich habe Zeit, ein lange fälliges Ritual durchzuführen«, meinte Awin.
Hier ergab sich jedoch eine Schwierigkeit, denn Awin brauchte einen ruhigen, abgeschiedenen Ort, einen Platz, an dem er ungestört und unbeobachtet auf seine Reise des Geistes gehen konnte. Es war klar, dass er einen solchen kaum in der Stadt oder in der Nähe des Lagers finden würde. Als sie schon in Erwägung zogen, hinaus in die Ebene zu ziehen, meldete sich Praane zu Wort. »Verzeih, Yaman, aber es gibt einen solchen Ort in der Stadt. Er ist der Ackergöttin Inne gewidmet, einer Dienerin der Hirth. Du hast ihn gesehen, denn er liegt am Markt, dem Haus der Ältesten gegenüber.«
»Ich danke dir für den Hinweis, doch ist es für das Ritual von Vorteil, den gestirnten Himmel über sich zu haben, und ich glaube nicht, dass eure Göttin Inne sehr erfreut wäre, wenn wir ihrem Tempel das Dach rauben«, erwiderte Awin höflich.
Zu seiner Überraschung lachte Praane laut auf. »Inne würde uns zürnen, wenn wir ihrem Haus ein Dach gäben, Hakul. Sie vermählt den Acker mit dem Regen, und das kann sie doch wohl nicht, wenn ihr Stroh, Schilf oder gar Ziegel im Weg wären.«
Während Jeswins Leute einen guten Platz für ihre Zelte suchten, ritt Awin zurück in die Stadt, um sich den Tempel anzusehen. Seine Gefährten begleiteten ihn, denn es war ihnen klar, dass Karno gefährlich für einen einzelnen - abtrünnigen - Hakul war. Als sie sich dem Marktplatz näherten, hörten sie großen Lärm, und nachdem sie ihn erreicht hatten, sahen sie eine Menge Krieger in wildem Gedränge. Es wurde geschrien und gebrüllt, und die Quelle der Unruhe schien auf den Stufen vor dem Ordal zu entspringen.
»Was ist hier los, Hakul?«, fragte Awin einen Krieger, der dicht an seinem Falben vorüberdrängte.
»Ein Streit. Er muss mit dem Dolch geklärt werden.«
»Worum geht es?«, fragte Wela.
Der Mann sah sie kurz verwundert an, vielleicht, weil er so weit von der Heimat entfernt nicht mit einer Hakul-Frau gerechnet hatte, dann sagte er: »Ein Streit eben. Eine Sache zwischen Kriegern, Weib. Blut wird die Angelegenheit schon klären.« Und dann lief er weiter und stürzte sich in das Getümmel.
Sie hielten sich dem Gedränge fern und stiegen im Schatten der hohen Tempelmauern ab. Awin ließ die Pferde in der Obhut von Limdin und Dare zurück. Dann durchschritten sie die breite Pforte.
Der Lärm von draußen drang fast ungehindert in die heiligen Mauern ein, denn, wie Praane gesagt hatte, fehlte dem Tempel das Dach. Genau genommen hatte er doch eines, aber das schützte nur einen schmalen, gepflasterten Streifen entlang der äußeren Mauern, so dass sich die Gläubigen unterstellen konnten, wenn es regnete, aber die weite Mitte des Gebäudes war Wind und Wetter schutzlos ausgesetzt. Eine hölzerne Statue mit übertrieben weiblichen Formen blickte die Eintretenden aus riesigen Augen an. Sie stand inmitten einer Blumenwiese, die ungehindert wucherte. Die Arme der Statue waren
ausgestreckt, sie schien etwas gehalten zu haben, doch war es nicht mehr dort.
»Sie haben die Opferschale geraubt!«, stieß Praane hervor.
Awin entdeckte kleine Stoffbündel, die über die Wiese und den gepflasterten Weg verstreut lagen.
»Opfergaben?«, fragte er den Akradhai.
Praane nickte. »Ist euch denn nichts heilig, Hakul?«, fuhr er Awin an.
Awin ging nicht darauf ein. »Gibt es hier einen Priester?«, fragte er.
»Eine Priesterin, Hakul«, sagte eine Stimme. Eine Frau trat aus einer schmalen Tür auf der anderen Seite des Tempels. Sie war recht jung, wirkte jedoch verhärmt. Sie trug ein schlichtes, graugrünes Gewand.
»Ich grüße dich, Priesterin«, sagte Awin, »und ich bitte dich, unser Eindringen zu entschuldigen.«
»Wenn ihr etwas stehlen wollt, so seid ihr zu spät, Hakul, denn eure Brüder haben schon alles genommen, was auch nur halbwegs von Wert war«, sagte die Frau verbittert.
»Wir sind nicht hier, um zu rauben, ehrwürdige Priesterin«, versuchte Awin, sie zu beschwichtigen.
»Ihr seid aber doch sicher nicht hier, um Inne die ihr zustehende Ehre zu erweisen, oder?«
»Die Göttin ist nicht hier«, sagte Isparra plötzlich.
Die Priesterin fuhr sie zornig an: »Woher willst du das wissen,
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