Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
und auf ihre Posten eilten.
»Was ist los, hat Eri seinen neuen Frieden etwa schon gebrochen?«, fragte Tuge, der Awin mit dem Bogen in der Hand auf dem Weg zum Tor einholte.
»Nein, aber es sieht so aus, als würde Isparra uns einen Besuch abstatten.«
Tuge packte Awin am Ärmel, blieb stehen und starrte ihn an. »Augenblick. Isparra? Die Alfskrole?«
Awin nickte.
»Sie kommt hierher?«
Awin nickte wieder.
Tuge schüttelte ungläubig den Kopf. »Isparra also. Aber was wollen die Krieger mit Bögen und Schwertern gegen einen Wind ausrichten?«
»Sie kommt nicht als Wind, Tuge. Sie hat sich einigen Spähern in Frauengestalt gezeigt.«
»Aber sie bleibt eine Unsterbliche, oder?«, fragte der Bogner.
Awin löste seinen Arm sanft aus Tuges Griff, zuckte mit den Achseln und ging weiter, was Tuge heftig den Kopf schütteln ließ. »Du fürchtest dich nicht? Wirklich, Awin, du hast zu viel Verkehr mit Zauberinnen, Toten, Göttern und anderen unheimlichen Wesen.«
Awin lächelte. »Fürchten kann ich mich immer noch, Tuge, aber ich glaube nicht, dass dazu Grund besteht. Isparra hat mir zweimal geholfen. Wenn ich die Männer, mit denen sie sprach,
richtig verstand, verlangt sie nun allerdings eine Gegenleistung von mir.«
Sie hasteten die enge Treppe des Torhauses hinauf.
»Das wird ja immer schöner!«, rief der Bogner. »Aber gleich, was sie verlangt - gib es ihr nicht! Sie ist eine Alfskrole, das kann nicht gut ausgehen!«
Unterdessen hatten sie die Mauerkrone über dem Tor erreicht. Dicht an dicht standen hier die Kriegerinnen der Viramatai mit ihren Bögen und die Ussar mit ihren tödlichen Wurfspießen. Sie hatten schon einmal gegen die Xaima gekämpft, als diese an Slahan gebunden und geschwächt gewesen waren. Und schon da hatte nur Merege sie besiegen können. Wie mochte es jetzt gehen, mit einer Windskrole, deren Macht niemand kannte? Awin blickte über die Mauer. Es war Mittag. Zwischen schnell wandernden Wolken brach immer wieder die Sonne durch und tauchte die weite Ebene in sanftes Licht. Vor dem Tor wartete die Fremde, von Kopf bis Fuß eingehüllt in einen grauen Mantel, der mit seltsamen roten Stofffetzen geschmückt war. Ihr Haupt war unter dem Überwurf des Mantels verborgen. Der Staub des viel benutzten Weges wirbelte um die hohe Gestalt, die offenbar gar nicht darauf achtete, dass die Mauern über dem Tor inzwischen vor Waffen starrten. Aber wenn es wirklich die Windskrole war, spürte sie sicher die Furcht, die all jene schwer bewaffneten Menschen vor ihr, der Unsterblichen, empfanden. Awin reckte sich, aber er konnte Merege nirgendwo entdecken.
Jetzt erschien auch die Fürstrichterin auf der Mauer. Sie hatte ihren eisernen Brustpanzer angelegt, den Helm mit dem hohen Federbusch aufgesetzt und sich sogar mit Speer, Schild und Schwert gerüstet. Finster blickte sie auf die einsame, schlanke Gestalt vor dem Tor. »Nun? Ist es Isparra oder ist sie es nicht, Yaman?«, fragte sie.
»Das kann ich von hier nicht erkennen, ehrwürdige Prawani«, antwortete Awin schlicht.
»Aber es lässt sich herausfinden«, sagte die Fürstrichterin grimmig. Sie beugte sich über die Mauer und rief: »Hier steht Prawani Kalya, Gebieterin über diese Festung. Nenne mir deinen Namen!«
Die Gestalt rührte sich nicht.
Kalya schüttelte den Kopf und gab einer nahe stehenden Bogenschützin einen Wink. »Aber dass du sie mir nicht triffst, mein Kind«, mahnte sie.
Die Schützin nickte und ließ ein Geschoss von der Sehne schnellen. Sirrend flog der Pfeil durch die Luft und bohrte sich einige Schritte entfernt von der verhüllten Gestalt in den Boden. Nun schlug die Fremde ihren Mantel zurück. Selbst aus dieser Entfernung erkannte Awin die hochmütigen Züge unter den langen schwarzen Locken wieder: Isparra die Zerstörerin. Sie war wirklich gekommen.
»Bekomme ich nun eine Antwort?«, rief die Fürstrichterin hinab.
Die Windskrole antwortete, und es war Furcht erregend, dass sie ihre Stimme nicht hob, aber ein jeder auf der Mauer ihre Worte dennoch gut verstand: »Der junge Seher. Er ist bei euch. Ich will ihn sprechen.«
»Ich habe gute Lust, sie mit Pfeilen spicken zu lassen«, zischte die Prawani wütend, aber Awin fühlte die Unsicherheit unter dieser Wut. Er legte begütigend eine Hand auf den Arm der Fürstin und sagte: »Ich glaube nicht, dass sie Böses will. Lass mich mit ihr reden.«
Und während ihn die Fürstrichterin noch zweifelnd ansah, wehte ein leises Flüstern heran: »Dann komm herunter,
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