Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
junger Seher. Meine Worte sind nicht für alle Ohren bestimmt.«
»Sie hört uns?«, flüsterte Kalya erbleichend.
Awin nickte. »Sie ist eine Windskrole, vergiss das nicht. Lass mich mit ihr reden. Es kann nicht schaden. Die Kariwa kann mich von hier aus beschützen«, sagte er, etwas lauter als nötig. Merege war endlich auch auf der Mauer erschienen, hielt sich aber im Hintergrund. Sie warf Awin einen zornigen Blick zu. Er hatte nicht vergessen, dass sie nicht mehr zaubern wollte, aber nun hob er beschwörend einen Finger an die Lippen. Merege verstand und nickte ihm zu.
»Auch meine Kriegerinnen sind bereit, herauszufinden, ob die da unten wirklich unsterblich ist«, sagte Prawani Kalya, die sich offenbar wieder gefasst hatte.
Brami Vareda begleitete ihn zum Tor. »Meine Gebete sind mit dir, Yaman Awin«, sagte die Priesterin leise. Awin lächelte. Offenbar fürchtete auch die Brami, dass die Windskrole jedes ihrer Worte hören könnte. Vielleicht hatte sie sogar Recht. Awin erwiderte: »Ich gehe mit guten Absichten vor das Tor. Edhil weiß es, und er wird mich schützen.«
Die Brami nickte ernst. Hinter Awin füllte sich der Hof mit schwer bewaffneten Kriegern, die sich der Windskrole in den Weg stellen würden, sollte sie versuchen, das Tor zu durchschreiten. Ein Ruf war das Zeichen, die schweren Flügel der Pforte zu öffnen. Bei der Schlacht um die Festung hatte Nyet der Angreifer, der starke Bruder Isparras, die Pforte zerschmettert. Die Viramatai hatten eine neue gezimmert, die noch schwerer und noch dichter mit eisernen Nägeln und Bändern aus Bronze beschlagen war als ihre Vorgängerin. Krieger hoben die beiden schweren Riegel aus den großen Halterungen. Awin hörte die scharfe Stimme der Prawani, die die Krieger zur Eile mahnte. Dann schwangen die mächtigen Flügel endlich knarrend auf.
Awin blickte auf die Ebene. Dort stand Isparra. Sie machte keinerlei Anstalten, ihm entgegenzukommen. War das ein gutes Zeichen? Sie hatte ihr Kommen angekündigt. Das hieß
doch, dass sie nicht in feindlicher Absicht hier war. Oder? Es gab vieles, was Awin noch nicht verstand. Eigentlich verstand er gar nichts. Was er sah, war einfach nicht richtig . Er hatte Isparra zum ersten Mal in den unterirdischen Irrgängen von Uos Mund getroffen, und er erinnerte sich gut daran, dass dieses Labyrinth seiner Welt nicht angehört hatte: Nicht viel länger als einen Tag war er dort unten gewesen, aber außerhalb dieser Gänge war ein halbes Jahr vergangen. Danach war er Isparra und den anderen Windskrolen auf seiner Reise des Geistes begegnet, und auch da hatte er die Menschenwelt verlassen müssen, um sie zu treffen. Isparra war schwach und verzweifelt gewesen, ein Schatten ihrer selbst, ein Spielball anderer Winde, und hatte schon ein unrühmliches Ende vor Augen gehabt. Awin hatte nicht damit gerechnet, sie je wieder zu sehen. Und nun stand sie in diesem seltsam geschmückten Mantel am hellen Tag vor der Festung von Pursu, als sei sie ein Teil der Welt der Sterblichen. Awin brannte darauf zu erfahren, was dahintersteckte. Langsam schritt er durch das Tor. Er hoffte sehr, dass dort oben auf den Mauern keiner die Nerven verlor. Ein einzelner Pfeil konnte sein Ende bedeuten - und er musste ihn nicht einmal treffen. Hinter ihm wurde das Tor wieder verschlossen und verriegelt. Der Weg schien ihm auf einmal sehr weit. Wenn etwas geschah, würde niemand ihm helfen können. Er schob diese Gedanken zur Seite und ging mit festem Schritt der Unsterblichen entgegen.
»Ich grüße dich, Isparra«, begann er das Gespräch, als er sie nach einer kleinen Ewigkeit endlich erreichte.
Die Windskrole hatte sich bis dahin nicht gerührt. Er sah sie nun aus der Nähe. Stolz war immer noch der beherrschende Zug in diesem schönen Gesicht. Aber darunter lag etwas, das Awin nicht deuten konnte. Würde er herausfinden, was ihr widerfahren war, und was sie überhaupt hierhergeführt hatte?
»Ich grüße dich, junger Hakul«, lautete die leise Antwort.
»Du hast nach mir verlangt?«, fragte Awin schlicht.
Isparra sah ihn nachdenklich an. »Wie schnell ihr Menschen euch verändert. Du bist nicht mehr der junge Seher aus Uos Mund. Ich sehe, du bist inzwischen Uo selbst begegnet.«
Awin fragte sich, woran sie das sah. »Was führt dich hierher, ehrwürdige Isparra?«, fragte er vorsichtig.
»Zweimal habe ich dir beigestanden. Ist es nicht so, Hakul?«
Awin nickte.
»Ich verlange nicht viel dafür. Nur hinter diese Mauer, die ihr auf die
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