Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
du nun zu ihr gehst. Versichere ihr mein Wohlwollen. Keinem ihrer Diener oder Krieger soll ein Leid geschehen - wenn sie mich nur für wenige Stunden auf die andere Seite dieser Mauer lässt.«
»Ich werde es ihr sagen«, erklärte Awin, der die Augen nicht von den beiden Pfeilschäften wenden konnte, die aus der Schulter der Windskrole ragten. Sie schien keinen Schmerz zu
spüren. Doch warum hatte sie die Pfeile nur zerbrochen - und nicht ganz aus dem unsterblichen Leib entfernt?
Wieder im Inneren der Festung, versuchte Awin, die Fürstrichterin davon zu überzeugen, dass es besser sei, die Windskrole durch das Tor zu lassen: »Wir Hakul haben Isparra immer mehr gefürchtet als ihren Bruder Nyet, und du wirst dich erinnern, mit welcher Leichtigkeit jener eure schwere Pforte zertrümmerte. Sie ist jetzt an diesen Körper gebunden, aber ich spüre, dass sie immer noch über große Macht verfügt.«
Die Prawani gab widerwillig nach: »Gut, sie mag bis zum Anbruch der Nacht im Hof dieser Festung bleiben. Aber du bürgst für sie, Hakul, und wenn auch nur einer meiner Kriegerinnen oder einem Ussar ein Haar gekrümmt wird, wirst du an ihrer Stelle büßen.« Ein entschlossener Zug um ihre dünnen Lippen verriet, dass sie das ernst meinte.
»Ich werde an ihrer Seite bleiben und über sie wachen, ehrwürdige Prawani«, versicherte Awin. Besonders wohl war ihm dabei nicht. Er hatte immer noch das Gefühl, dass ihm Isparra etwas Wichtiges verschwieg.
»Du kannst hinein, bis zum Anbruch der Nacht, doch versprich mir, keinem dort drinnen ein Leid zuzufügen, denn ich habe mich für dich verbürgt«, erklärte er Isparra vor dem Tor. Sie nickte kurz, dann steuerte sie gemessenen Schrittes das offene Tor an. Awin blieb an ihrer Seite und bat die Götter, alles gut gehen zu lassen. Besorgt sah er all die Krieger dort oben, die stumm beobachteten, wie die Unsterbliche sich ihrer Festung näherte. Finster lag der Schatten des Torhauses vor ihnen, und danach würde es wohl noch gefährlicher werden. Als sie die weit geöffnete Pforte durchquert hatten, blieb Isparra stehen. Ein Wall aus Schilden erwartete sie. Dutzende Krieger drängten
sich in einem waffenstarrenden Halbkreis zusammen, und Awin konnte die Speere nicht zählen, die auf ihn und seine Begleiterin gerichtet waren.
Isparra war wenig beeindruckt. »Die Quelle der Alten Kraft«, sagte sie, »führe mich dorthin.«
Awin nickte. Er gab den Kriegern einen Wink. Unruhig wichen sie ein Stück zurück, aber sie ließen sie nicht etwa hindurch, sondern schienen entschlossen, die Unsterbliche nicht aus den Augen zu lassen und innerhalb der Reichweite ihrer Waffen zu halten. Und so schloss sich ein seltsamer Ring von beinahe hundert Kriegerinnen und Kriegern um Awin und die Windskrole, bedrohte sie mit ihren Speeren und schob sich Schritt und Schritt mit der Besucherin weiter in die Mitte des Festungshofes hinein. Isparra nahm auch das mit Gleichmut hin. Sie folgte Awin zum weißen Platz.
»Ah«, rief sie, »ich kann es spüren.« Ein Leuchten erschien in ihren Augen. Sie steuerte zielstrebig die Stelle an, an der Slahan die Kraft aus der tiefen Erde geholt hatte, und streckte schnell die Hand aus, was dazu führte, dass ein Keuchen durch den Kreis der Kriegerinnen und Krieger lief, und dass sie ihre Waffen fester fassten. Awin sah ihre Speerspitzen zittern. Isparra verharrte einen Augenblick in dieser Bewegung, dann ließ sie ihre Hand ganz langsam wieder sinken. »So wenig?«, fragte sie leise.
Awin war dicht bei ihr. Er versuchte, die Krieger im Auge zu behalten. Noch hielten sie ihre Furcht im Zaum.
»Nun verstehe ich, dass meine Geschwister sich nicht um diesen Ort bemühen«, flüsterte Isparra, und die tiefe Enttäuschung war ihr anzumerken.
Awin stockte der Atem, als er begriff, was sie gesagt hatte. »Deine Geschwister - sie leben noch?«, flüsterte er.
Isparra schien ihn kaum zu hören. »Ich werde ihnen folgen.
Sie haben mich verraten. Dafür müssen sie bezahlen. Aber dennoch, vielleicht ist ihr Weg der bessere«, murmelte sie mit gedankenverlorenem Blick.
Awin musste die Neuigkeit, dass die vier Windskrole nicht vernichtet waren, immer noch verdauen. Mit gepresster Stimme fragte er: »Ihr Weg? Was für einen Weg meinst du?«
Die Unsterbliche sah Awin verwundert an. »Hinauf in den hohen Norden. Wusstest du das nicht?« Ihrem Tonfall nach hatte sie offenbar wirklich erwartet, dass Awin diese Tatsache längst bekannt war.
Verdattert fragte er:
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