Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
besorgt fragte, was aus dem geflohenen Mädchen geworden war, kamen Tuge und Limdin keuchend den Weg herauf. Sie schleppten die widerstrebende junge Frau hinter sich her. Wenigstens ihr war nichts geschehen.
»Der Wächter?«, fragte er, obwohl er die Antwort kannte.
Tuge schüttelte den Kopf. »Er sah uns und floh. Ich traf ihn am Bein, weil ich ihn nicht töten wollte, aber der Narr hielt nicht an, sondern humpelte weiter. Der Weg ist schmal dort. Er trat fehl und stürzte in die Tiefe.«
Wela kam aus dem Wäldchen gelaufen. Mahuk folgte ihr und schob den gefesselten Wächter vor sich her. Dieser sah immer noch reichlich blass aus. Er hustete und würgte, während er vor dem Raschtar herstolperte.
Schritte kamen aus dem Inneren der Höhle, die, wie Awin nun feststellte, gar keine Höhle, sondern ein gewaltiger Durchgang unter den Steinplatten war. Er beschrieb weiter hinten einen seltsamen Knick, aber Awin konnte Tageslicht am anderen Ende entdecken. Dahinter schien eine weitere Bergwiese zu liegen. Mehrere Menschen kamen jetzt durch den Gang heran. Zwei Männerstimmen riefen laut und fragten ungehalten nach dem Grund für den Lärm. Endlich traten sie ans Licht. Der eine war untersetzt, und obwohl er sicher älter war als der erste Deuter, war sein Haar von hellem Blond, ohne auch nur eine Spur von Weiß zu zeigen. Der Mann neben ihm war von durchschnittlicher Größe. Seine unscheinbaren Gesichtszüge waren von einem üppigen weißen Bart gerahmt. Er atmete schwer. Wie seine beiden Gefährten trug er eindeutig zu viel Fett auf den Hüften. Hinter den beiden tauchten die ängstlichen Gesichter zweier Frauen auf. Wela hatte sich unterdessen über den Verwundeten gebeugt und begonnen, die Wunde zu untersuchen. »Der Pfeil steckt nah am Herzen. Lasse ich ihn dort, stirbt er. Ziehe ich ihn hinaus, stirbt er ebenfalls. Meine Kunst endet hier.«
»Mörder!«, zischte die Rothaarige noch einmal.
»Mahuk kann ihm helfen«, erklärte der Raschtar.
Aber da blickte der stöhnende Krieger auf, hob abwehrend die Hand, und die Frau erklärte stolz: »Er stirbt lieber in der
Schlacht als durch die schwarze Kunst eines Feindes. Er ist ein Hakul.«
»Er ist ein außerordentlich dummer Hakul, wenn er sein Leben wegwirft«, hielt Tuge dem trocken entgegen.
Nun mischte sich der blonde Deuter ein: »Lass den Fremden helfen, Inwa«, sagte er begütigend.
Die Rothaarige zögerte einen kurzen Augenblick, dann nickte sie mit verkniffenem Mund.
»Du bist Awin, Kawets Sohn«, stellte der Unscheinbare plötzlich fest.
Awin war für einen Augenblick überrascht, aber dann war ihm klar, dass der Deuter das anhand seiner Gefährten erraten hatte. Er verstand offenbar sein Handwerk. Der Narbengesichtige zerstörte jedoch den Eindruck, den die kühne Schlussfolgerung auf Awins Gefährten gemacht hatte: »Ein junger Yaman, in Begleitung einer blassen Fremden mit einem Zeichen im Gesicht, die Heilerin, die mit den Männern reitet, dann noch der Ussar - natürlich. Du bist Awin der Abtrünnige!«
Awin lächelte. »Ich hoffe, ihr versteht den Ernst eurer Lage, ehrwürdige Deuter. Und ich nehme an, ihr seid weise genug, nichts Unbesonnenes zu unternehmen. Auch werdet ihr den Frauen zureden, besonnen zu bleiben, nicht wahr?«
Der Blonde nickte. »Ich denke, es besteht kein Grund für weiteres Blutvergießen, ja, es bestand überhaupt kein Anlass, mit Gewalt hierher vorzudringen! Das Orakel steht allen offen, Awin von den Dornen.«
»Allen, ehrwürdiger Deuter? Auch mir, dem Abtrünnigen? Und der Tiudhan hätte nichts dagegen gehabt?«, fragte Awin mit kaltem Spott.
»Nun, es ist wahr«, sagte der Blonde, »du bist auf den Weiden der Hakul nicht mehr wohl gelitten, Yaman. Wundert dich das? Du hast dem Tiudhan den Gehorsam verweigert, den du
ihm schuldest, den wir alle ihm schulden! War er es doch, der die Schlacht von Pursu zu einem guten Ende gebracht hat. Hat er dir nicht sogar das Leben gerettet, als dein Meister dich töten wollte?«
Awin starrte den Deuter völlig verblüfft an. Eine gröbere Verdrehung der Tatsachen war kaum denkbar.
»Ich sage es wieder, wir hätten ihn fallen lassen sollen, diesen Knaben, damals, als der Schild unter ihm zerbrach«, fluchte Tuge, eine Bemerkung, die dazu führte, dass die drei Deuter fragende Blicke austauschten.
»Wenn ihr wollt, erzählen wir euch gerne ausführlich, wie Eri zu seinem Beinamen ›Schildbrecher‹ gekommen ist, ehrwürdige Deuter. Es hat wenig mit den ruhmvollen Geschichten
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