Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
kleine Kammern waren in die Felsen teils hineingeschlagen,
teils durch Mauerwerk geschaffen worden, und Awin fragte sich, wie ein Hakul es unter so viel Stein aushalten konnte. Nach etlichen Schritten beschrieb der Durchgang einen Knick, und sie stellten erstaunt fest, dass sich hier zwei weitere kleinere Felsplatten, etwas versetzt zu ihren großen Geschwistern, aneinanderlehnten. Und dann sah Awin im Licht der Nachmittagssonne die heiligen Stuten. Es waren vier, und sie weideten auf einer schmalen Wiese.
»Vollkommen«, stieß Tuge hervor.
Staunend gingen sie weiter. Awin konnte dem Bogner nur beipflichten, denn diese Pferde waren schneeweiß, und das Sonnenlicht, das ihr Fell zurückwarf, erhellte das kleine Tal, in dem sie gehalten wurden.
»Wunderbar«, stammelte Wela ergriffen.
»Yeku mag sie nicht«, murmelte Mahuk Raschtar, aber auch er konnte nicht verhehlen, dass er beeindruckt war.
»Es sind wirklich schöne Tiere«, meinte Merege, »doch mir scheint, sie vermissen die Steppe.«
»Weib, was verstehst du davon?«, widersprach der Narbengesichtige.
»Auch die Kariwa halten Pferde«, lautete die trockene Antwort.
»Wann immer in der Steppe ein Tier geboren wird, das so rein und vollkommen ist wie jene vier, wird es zur Prüfung zu uns gebracht«, erklärte der Unscheinbare stolz. »Wir Deuter erkennen, ob seine Seele von den Göttern ebenso gesegnet wurde wie sein Äußeres. Nur diese Tiere dürfen auf dieser Weide grasen. Wir verehren sie, wir pflegen sie, denn in ihnen offenbart sich der Wille Marekets, und durch die Schimmel können wir ihn erkennen.«
»Der Wille Marekets«, murmelte Awin. Er konnte sehen, dass es den Tieren an nichts mangelte. Es gab einen kleinen
Wasserlauf am Rande der Wiese, und es gab sogar einen fest gemauerten Stall, in dem sie im Winter Schutz finden würden, eine für Hakul äußerst ungewöhnliche Einrichtung. Dennoch, Merege hatte Recht. Das war nicht die Steppe, in der diese Tiere geboren waren. Aber wenn die Götter durch sie sprachen?
»Dir wollen sie jedoch nichts sagen, Awin, und du weißt, warum«, erläuterte der Blonde überheblich. »Und wir können und wollen sie nicht zwingen.«
»Du bist ein Deuter, und ich nehme an, du verstehst dich darauf, Zeichen zu enträtseln und die Gedanken der Menschen zu erraten. Was mich betrifft, so bist du allerdings im Irrtum. Ich selbst habe keine Frage an die Stuten«, behauptete Awin, obwohl er gerne ihren Rat eingeholt hätte. Er dachte wieder an die Menschen auf dem Pfad. Der Zugang zum Orakel war leicht zu verteidigen, aber er konnte doch nicht noch einen Kampf beginnen. Er fuhr möglichst gelassen fort: »Ich will jedoch wissen, was sie zu Eris Plänen sagten.«
»Was weißt du schon von den großen Vorhaben des Tiudhan, Abtrünniger?«, entgegnete der erste Deuter herablassend.
»Mehr, als gut für euch ist«, entgegnete Awin trocken. »Also?«
Die Deuter sahen einander an, sie schienen verunsichert. Der Unscheinbare räusperte sich schließlich und antwortete stolz: »Der Tiudhan befragte das Orakel - und es antwortete. Doch diese Antwort muss unberufenen Ohren vorenthalten bleiben, Yaman.«
Vielleicht rechneten sie damit, dass die Ehrfurcht, die alle Hakul vor dem heiligen Orakel verspürten, sie schützen würde. Aber Awin hatte sie gesehen und durchschaut. Ohne Zweifel waren es kluge Männer, vielleicht sogar mit seherischen Fähigkeiten, doch sie waren zu reich gekleidet und zu gut genährt.
Sie lebten gut, und sie lebten gern - sie sahen nicht aus, als seien sie bereit, ihr Leben für Eri zu opfern. Also erklärte er ruhig: »Ich verstehe und schätze deine Zurückhaltung, ehrenwerter Deuter, doch muss ich dir leider sagen, dass ich darauf keine Rücksicht nehmen kann. Nimm einfach an, meine Ohren seien ebenfalls berufen. Das ist jedenfalls das, was mein Schwert behauptet, und du willst ihm doch nicht widersprechen, oder?«
»Sag es ihm ruhig«, schnaubte der blonde Deuter. »Wir haben nichts zu verbergen.«
Der Narbengesichtige nickte zustimmend, und so sagte der dritte Deuter: »Der Tiudhan kam mit der Frage zum Orakel, was geschähe, wenn er gen Norden zöge mit seinem Heer. Dies war eine große und gewichtige Frage. Drei Tage ließen wir die Stuten weiden, bis wir wirklich sicher waren, sie verstanden zu haben. Sie weideten bedächtig, den Hang hinauf. Und das Spiel ihrer Ohren, die Neigung ihres Halses, ihr bald unruhiger Schritt, all das offenbarte uns ihr Wissen, das die Götter selbst ihnen
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