Der Sohn des Tuchhändlers
nicht alles täuschte, teilten beide Häuser ein Wandstück miteinander. Ich hatte nie geahnt, wie nahe der Mann uns in jeder Beziehung war. Daniel drehte sich einmal um die eigene Achse. Weit oben jenseits der Traufrinnen der Hausdächer lag der makellose Frühsommerhimmel. Das Gedröhn des Mobs auf dem Marktplatz drang nicht hierher. Ich roch den ewigen Gassengeruch von schimmligem Lehmboden, feuchten Grundmauern und Katzenpisse.
Die Schustergasse lag zwischen der Sankt-Anna-Gasse im Südwesten und der Judengasse im Nordosten. Das Schustertor führte direkt nach Garbary hinaus, weshalb es nicht sonderlich frequentiert war – in Garbary waren die Gerber, und das Handwerk der Gerber stank. Die Schustergasse war enger als die Gassen, die zu den anderen Toren der Stadt führten. Zu unserer Linken lag das Schustertor – geschlossen … bewacht. Die andere Richtung hätte uns wieder zurück in die Gasse geführt, die vor Janas Haus vorbeilief. Die Wachen hatten gesagt, sie hätten Paolo nicht gesehen.
»Er ist linksrum gelaufen, am Tor vorbei und an der Mauer entlang«, sagte ich und rannte los.
Der Zugang zur Judengasse war auch hier versperrt. Die Torwachen hatten ein paar der stachligen Holzreiter, die in friedlichen Zeiten wie irrsinnig aussehende Esel an der Mauer entlang aufgereiht standen, quer über die Gasse geschoben.
»Hier geht’s nicht weiter«, sagte ihr Scharführer, diesmal auf deutsch, aber nicht weniger unfreundlich als sein Kollege vorhin.
»Ein kleiner Junge …«, keuchte ich.
Der Wachführer überlegte keine Sekunde. »Ist hier langgelaufen.« Er deutete an der Mauer entlang nach Südwesten. »Grade vor ein paar Minuten.«
Ich ahnte, dass er log, um mich loszuwerden. Was hätte ich tun sollen, außer seinem Hinweis trotzdem zu folgen? »… danke …« Ich wandte mich um und begann wieder loszutraben.
»Das ist die Gegenrichtung«, rief Daniel, immer noch neben mir, immer noch nicht einmal einen Schweißtropfen auf der Stirn.
»Wenn er nochmal durchs Haus gerannt wäre, hätte ihn jemand aufgehalten … also muss er sich gedacht haben, ich versuch’s über die Sankt-Anna-Gasse … vorn rum … dort, wo du uns beide vor den Studenten …«
»Verdammt!«, sagte nun auch Daniel.
Der Lärm brandete durch den Kanal der Sankt-Anna-Gasse auf uns zu, als wir um die Ecke bogen. Die Kirche hatte ihre Pforten geschlossen. Der Priester tat seine Christenpflicht, indem er sicherstellte, dass ein Schutzsuchender nicht aus Versehen etwas in der Kirche beschädigen konnte.
»Ich verstehe nicht, wieso er hier herum …«
»Über den Platz …«, japste ich. Ich fühlte, wie mein Herz zu stechen begann. Meine Füße brannten in den dünnen Lederschuhen; ich war nicht so praktisch veranlagt wie Jana und hatte nicht daran gedacht, feste Stiefel anzuziehen. Die Luft in der Sankt-Anna-Gasse, die breiter war als die Gassen in ihrer Umgebung, schien wärmer und zugleich drückender zu sein. In der Dunkelheit der Stichgasse hinter dem Haus hatte der Himmel blau gewirkt; hier, in einer weniger engen Umgebung, wurde einem bewusst, dass das Blau schmierig war. Die Sonne warf Schatten, aber die Schatten waren merkwürdig unscharf. »Er versucht es jenseits des Eingangs zur Judengasse … da ist das Schusterviertel … abgewandt vom Marktplatz … und ein paar Felder, viele freie Flächen …« Ich bekam Seitenstechen vom schnellen Hervorstoßen der Worte und presste die Hand in die Seite. »… das können sie nicht abriegeln …«
»Ich hätte nicht gedacht, dass der Rat seine Männer von der Sicherung des Rathauses abzieht, um die Juden zu schützen.«
»Sie müssen glauben, es geht jeden Moment los.«
Daniel zog ein bestürztes Gesicht und lief schneller. Er überholte mich, als wir auf den Marktplatz einbogen. In Sekundenschnelle waren wir zwischen den Menschen eingekeilt … zwischen den Menschen und im ersten Kreis der Hölle, wo die Verdammten ihren Tanz aufführen und einen einladen, näher zu treten. Über den Köpfen der Menge tanzte ein Verdammter den Totentanz … es war Julius Avellino.
Entweder hatte ihn der Mob sich gewaltsam geholt, oder der Rat hatte keinen Ausweg mehr gesehen und ihn freigegeben. Wenn Letzteres zutraf, mussten sie sich darüber im Klaren sein, dass sie die Dinge damit nicht besser machten. Allenfalls erkauften sie sich Zeit. Vielleicht hofften sie, dass König Kasimir eingriff. Wie auch immer, Julius Avellino bestritt noch einmal einen Auftritt auf dem Marktplatz; und es
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