Der Sohn des Tuchhändlers
mehr das.«
»Du glaubst, er haut ab?«
Er kann wenigstens abhauen, dachte ich. Der Herzog wird ihn auf die Straße setzen, wenn er erfolglos zurückkehrt, aber er wird leben, und seine Familie wird ebenfalls leben. Er wird von neuem anfangen müssen, das ist alles. Ich kann nicht abhauen, obwohl meine Aufgabe genauso sinnlos erscheint wie seine. Aber wenn ich es tue, wird es keine Rückkehr geben: Paolo wird nicht wiederkommen, unsere Familie wird seinen Verlust nicht überleben, und es wird auch keinen Neuanfang geben. Paolo ist unser Alpha und unser Omega.
Ich dachte an Jana. Irgendetwas stimmte nicht. Macht euch keine Sorgen um mich ? Worüber? Was konnte ihr auf dem Weg ins Schlafzimmer schon zustoßen?
Sabina trat vor und setzte sich neben Daniel auf die Bank. Ich saß ihnen gegenüber. Im Gegensatz zu sonst hatte ich diesmal nicht das Gefühl, dass ich einer Front gegenübersaß; aber vielleicht klammerte ich mich auch nur an den Strohhalm, dassmeine Familie und ich wenigstens im Augenblick zusammenarbeiteten.
Ich blickte wieder zur Tür. Ich erinnerte mich daran, wie ich hier hereingekommen und beinahe über die aufgestapelten Bänke gefallen war. War das tatsächlich erst vorgestern gewesen? Ich spannte die Muskeln an meinen Waden und spürte das leichte Ziehen, das die blauen Flecke an meinen Schienbeinen verursachten. Ich war in den Saal gestolpert wie ein verwundeter Türke, hatte Jana gescherzt. Wie hatte sich der lange Fall von dieser kleinen Stichelei bis hierher entwickeln können, und warum hatten wir nichts dagegen unternommen? Paolo war weggelaufen, weil er gehört hatte, sein heißgeliebter »Onkel« Mojzesz sei in Gefahr, aber: Wäre er vielleicht nicht weggerannt, wenn er nicht auch noch gehört hätte, wie ich fast im selben Atemzug Jana beschuldigte, mich zu betrügen?
»Ich wollte euch zu einem Augenblick des Glücks einladen«, hörte ich mich sagen, ohne mich zu meinen Kindern umzudrehen. »Es tut mir Leid.«
»Ich kümmere mich um die Suchmannschaft für Paolo«, sagte Daniel. »Mach dir keine Sorgen.« Ich hörte, wie er aufstand.
Sabina sagte: »Geh ihr nach.«
Ich drehte mich zu ihr um. Plötzlich war ich überzeugt, dass alles nur ein Traum war. Was taten meine Kinder in dieser Umgebung? Wieso saß ich hier im Dunkel, wieso brannten alle Lichter, wenn die Luft des schwülen Sommertages zum Fenster hereindrängte wie schlechter Geruch? Wozu war diese lange Tafel aufgebaut, wenn nur wir drei daran saßen und statt Gelächter die blanke Verzweiflung darüber hinwegging? Aber der Traum löste sich nicht auf, als ich mir sagte, dass er einer war, und ich musste zugeben, dass ich mich in der Realität befand.
»Geh ihr nach«, sagte Sabina. »Ich weiß nicht, was hier los ist, aber eines ist mir klar: In diesem Moment braucht sie dich nötiger als wir oder Paolo oder sonst jemand auf der Welt.«
Als ich ins Schlafzimmer trat, fuhr eine Gestalt auf dem Bett in die Höhe.
»Wer ist da?«
»Ich bin’s, Zofia: Peter Bernward. Ruh dich aus.«
»Ist er da?«, fragte Zofia.
»Wer, dein Vater?« Ich schüttelte den Kopf. Das Wetterleuchten zuckte auch hier herein, wenig stärker als im Saal. Es erfüllte das Schlafzimmer mit fahlem Blinzeln. »Ich glaube nicht, dass er den Turm verlassen wird, solange sich die Lage nicht geklärt hat. Ich würde es ihm jedenfalls nicht raten.«
Zofia regte sich nicht. Ich hatte nicht den Eindruck, ihr die Antwort gegeben zu haben, die sie erhofft hatte.
»Ist Jana in ihrem Zimmer?« Ich deutete auf die Tür. Zofias Gesicht schwebte in den Schatten. Mit einem Schlag wurde mir bewusst, dass meine Frage überflüssig war. Jana war nicht hier hereingekommen, sonst wäre Zofia von meinem Eintritt nicht so erschrocken in die Höhe gefahren. Ich wartete keine Antwort ab; ich öffnete nicht einmal die Tür zu Janas Zimmer, denn ich ahnte nicht nur, ich wusste, dass es leer war. Jana war weggegangen.
Einer der Gründe für den Erfolg des Hauses Dlugosz war seine glänzende Geschäftsverbindung zum Haus Medici in Florenz – sicherlich nicht der Hauptgrund (der war Janas Handelsgeschick und der Umstand, dass die meisten ihrer Konkurrenten dazu neigten, sie ihres Geschlechts wegen zu unterschätzen, was Jana gnadenlos auszunutzen wusste), aber doch einer der Eckpfeiler des Geschäfts. Die Verbindung war bei unserem Aufenthalt Ostern 1478 in Florenz geknüpft worden, als Jana ungerechtfertigt in den Aufstand der Familie Pazzi gegen Lorenzo und Giuliano
Weitere Kostenlose Bücher