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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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werden sichtbar, die man ansonsten nie registriert hätte; ich nehme an, der menschliche Geist versucht so, festzustellen, ob der Anblick, dem er ausgeliefert ist, Wahrheit ist oder ob er einer Einbildung unterliegt, die sich durch die Surrealität der umgebenden Eindrücke von selbst entlarvt. Was die Szene auf dem Marktplatz betraf, so waren die Details surreal genug, dass man das Geschehen als schlechten Traum hätte werten dürfen, dennoch gab es keinen Zweifel daran, dass es real war.
    Es war Langnase und seinen Leuten gelungen, den Pfahl so in den Scheiterhaufen zu rammen, dass er senkrecht nach oben ragte und sich in den dunklen Himmel erhob als krudes Götzenbild, um dessen Füße die Flammen loderten. Irgendjemand hatte den Scheiterhaufen in Brand gesteckt, ohne abzuwarten, bis sich ein Opfer einfand, und so erhob sich der Pfahl allein aus dem Feuer. Die Flammen wirbelten Funkenregen in die Luft, Tausendevon glühenden Teilchen, die sich wanden und tanzten und vom Zucken der Stichflammen in die Höhe katapultiert wurden. Die Trockenheit hatte das Holz, das gesammelt worden war, um den Scheiterhaufen zu errichten, zu Zunder werden lassen; das Feuer brannte fast rauchlos, und alles, was man riechen konnte, war der beinahe heimelige Duft eines Johannisfeuers; was man hörte, war das Prasseln, was immer dort vorn geschrien oder geheult wurde, verschluckte das Donnergrollen; und der Tanz der Funken vor dem Nachthimmel war weniger schrecklich als vielmehr faszinierend.
    Ich hatte es schon anders gesehen …
    … wenn der Henker und seine Knechte den Scheiterhaufen errichteten, legten sie nasses Holz dazwischen, um genügend Rauch zu erzeugen, der den Verurteilten erstickte, bevor das Feuer ihn erreichte. Dann legten sich graue Wolken über den Platz und die Zuschauer, bis deren Augen tränten; es roch beißend und kratzte im Hals – bis die Flammen den Körper des Verurteilten erreichten und der Rauch von grau zu fettem Schwarz wechselte und der Gestank ekelerregend wurde. Die Zuschauer hielten in dieser Situation in der Regel nur durch, wenn der Verurteilte weder die Gnade erfahren hatte, dass der Henker ihn unauffällig erdrosselte, noch genügend Rauch entstanden war, um ihn zu ersticken, und ein dementsprechend aufregendes Schauspiel bot.
    Jana machte eine Bewegung, und ich legte ihr unwillkürlich die Hände auf die Schultern. Sie lehnte sich an mich. Ich spürte durch die Kleider, wie sie bebte. Wir waren die einzigen sichtbaren Zuschauer; ich war sicher, dass genügend Nasen an Fensterscheiben platt gedrückt wurden in den Häusern um den Martkplatz herum (wenn die Bewohner nicht in irgendeinen Vorratskeller geflohen und diesen hinter sich verriegelt hatten vor Angst, von den Fanatikern aus ihren Häusern gezerrt zu werden) und vor allem in der Herrenstube im Rathausturm. Niemand bot Langnase und seinen Leuten Einhalt oder versuchtesie aus ihrem Irrsinn aufzuwecken, indem er darauf hinwies, dass der Funkenflug des Feuers jederzeit die Häuser in Brand setzen konnte. Wo waren die Brandwachen mit den Eimern und den nassen Decken, mit den dicken Ruten aus grünem Holz; wo waren die diskret im Hintergrund gehaltenen Eimerketten, wie man sie in der Regel aufbot, wenn ein Mensch unter geordneten Umständen auf dem Platz verbrannt wurde? Wo war die Stadtwache? Ich verfluchte den Rat für seine Idiotie – wenn das Feuer außer Kontrolle geriet, würden sie vielleicht endlich das Herz fassen und die Männer zurückholen, aber dann konnte es zu spät sein.
    »Wer ist das?«, fragte Jana, ohne ihre Blicke vom Feuer abzuwenden. Ihre Stimme war krank.
    »Ein armes Schwein«, sagte ich. »Sie werden ihn ins Feuer treiben und wenn er herauskriechen will mit langen Stangen wieder zurückstoßen, so wie man es manchmal macht, wenn …«
    »Hör auf.«
    Ich ging davon aus, dass sie wusste, dass ich nicht aus Gefühllosigkeit so geredet hatte. Mein Herz schlug hart gegen meine Rippen und machte mich kurzatmig. In unserer Zeit gibt es wohl keinen Menschen, der nicht schon Zeuge geworden ist, wie der Henker einen Verurteilten vom Leben zum Tod gebracht hat; und in nicht wenigen Fällen ist es nicht lediglich eine Erhängung oder eine Enthauptung gewesen, sondern ein grimmiges Zu-Tode-Schinden, an dessen Ende der Delinquent sein Ableben als Gnade empfunden hat. Auch ich habe meinen Anteil an Zeugenschaft daran, und doch …
    … einen Menschen brennen zu sehen und die Geräusche zu hören, die er dabei macht …
    Ich bin noch

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