Der Sohn des Tuchhändlers
Griff kriegen, wenn wir die Feuerbekämpfung gut organisieren. Die Ratsschar bleibt bei mir und folgt mir zum Rathaus – auch da gibt es Arbeit für uns. Die Entscheidung ist ohne unser Zutun getroffen worden, meine Herren.« Er stürzte in das Lagergebäude hinein, ohne sich zu vergewissern, ob sie seinem Befehl folgten. Es war unnötig: Sie stießen sich gegenseitig im Bemühen, als Erste durch das Tor und zu ihren Pferden zu rennen.
Trompetentöne schnitten plötzlich durch das Getümmel. Jeder kannte die ansteigende Melodie des hejnal, aber sie so dicht über den Köpfen zu hören, sie quasi in die Ohren geschmettert zu bekommen, ließ alle herumfahren. Sonst stand der Trompeter hoch auf dem Kranz des Nordturms des Doms und spielte sein jäh abbrechendes Lied für die ganze Stadt – heute blies er bei der Loggia des Rathauses hinaus, eine Sondervorstellung für die Menschen auf dem Tuchmarkt und doch wiederum für die Stadt an sich: Sein Standort war der große Saal unter dem Dachgeschoss des Rathauses, der für öffentliche Versammlungen und Gerichtsverhandlungen zur Verfügung stand und für jeden Bürger zugänglichwar. Wenn dies noch nicht symbolträchtig genug war, dann war es das Lied, das er spielte. Man konnte förmlich einen Ruck durch die beiden Parteien gehen sehen, als der Trompeter ohne zu stocken über den Abbruch hinweg spielte und die Melodie vollendete, die seit zweihundertfünfzig Jahren niemand mehr gehört hatte: Krakau, wach auf, Krakau, wach auf, der Feind ist da! Dass der Bürgermeister es ausspielen ließ, bedeutete nichts anderes, als dass heute eine Gefahr drohte, die der von damals mindestens ebenbürtig war. Ich bin sicher, es war dieses Lied und nicht der Bürgermeister, der zusammen mit den Mutigsten unter den Ratsherren durch die Schmalstelle zwischen Rathaus und Tuchhallen gerannt kam und einen Zweig schwenkte, der sicher kein Ölzweig war – das Lied besaß die Macht, die Dynamik auf dem Platz zu stoppen und die Krakauer davon abzuhalten, ihre Brüder in das lodernde Feuer des Scheiterhaufens zu treiben. Es mochte nur für einen Moment wirken, es mochte nicht die Kraft haben, die Gegner einander in die Arme sinken zu lassen oder bei den Fanatikern die Erkenntnis wecken, dass sie sich hatten missbrauchen lassen; es konnte nicht den Hass der Polen auf die Deutschen, der Armen auf die Reichen oder der vermeintlich Benachteiligten auf die vermeintlich Bevorzugten davonblasen. Doch die traurige Melodie, die damals Krakau vor den Tataren bewahrt hatte und deren Spiel angesichts der Gefahr den Trompeter das Leben gekostet hatte, konnte sie alle einen Augenblick innehalten lassen … und dieser Augenblick genügte. Zum Schlag erhobene Fäuste und zum Tritt gespannte Beine senkten sich, Männer, die einander an der Gurgel hatten, lockerten ihren Griff, Messer stießen im letzten Moment doch nicht zu und Knüppel blieben in der Luft hängen, anstatt einen Schädel zu spalten. Das Schlachtgetümmel verstummte fast vollständig, und der Platz wirkte so still, dass sich das Hornsignal klar und einsam über alle anderen Geräusche hinwegsetzen konnte. Ein kalter Windstoß, der nach all den heißen Böen einen Schauer meinen Rücken hinaufjagte, fegte um das Feuer herum und dem Bürgermeisterentgegen. Der Raum zwischen den Kämpfenden und dem Scheiterhaufen war knapp, doch Joachim Betmann rannte mit seinem Gefolge dort hinein. Er schrie aus Leibeskräften und deutete über die Köpfe hinweg; vor dem tosenden Feuer wirkte er ein paar Momente lang wie Langnase, der seine Truppen noch einmal aufzustacheln versuchte. Ich sah, dass Laurenz Weigel in seiner Begleitung war, ein oder zwei andere Gesichter und mitten darin und wie selbstverständlich dazugehörend Joseph ben Lemel. Der Trompeter beendete seine Melodie mit einem langgezogenen letzten Laut, die Stille wurde noch stiller, und man konnte den Bürgermeister über das Prasseln des Feuers, das Fauchen des Windes, das Donnerrollen und ein kaltes Rauschen, das plötzlich begann und einen weiteren Kältehauch vor sich hertrieb, schreien hören: »Krakauer, rettet eure Stadt!«
In diesem Moment begann der Platzregen.
Er fiel ohne Vorwarnung über den Tuchmarkt her. Im einen Moment war er noch trocken, im nächsten stand er unter einem Wasserfall. Der Regen fiel nicht, er tobte herab, er wurde aus den Wolken geschleudert, er war jedem ein voller Eimer ins Gesicht und ein entsetztes Luftholen, der Mund war plötzlich voller Wasser und das
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