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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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stehen.
    Paolo direkt vor mir war leichenblass. Er starrte in das Gesicht des jungen Mannes in meinem Griff, das genau in seiner Augenhöhe war.
    »Paolo!«, sagte ich laut. »Lauf nach Hause. Jetzt.«
    »Die Kröte kommt nicht weit …«
    »Ich kann eurem Freund entweder die Schulter ausrenken oder das Genick brechen«, sagte ich. »Wenn ich ehrlich bin, glaube ich eher, es wird das Genick.«

»Danach erwischen wir dich.«
    »Mag schon sein. Aber ›danach‹ ist er hier tot.« Ich riss ein bisschen an den Haaren meines Gegners, und er schrie auf.
    »Ganz schön kampfbereit für ein fettes Schwein aus dem Reich.«
    »Du sagst es«, erklärte ich.
    »Hau ab, Kleiner«, sagte der Student und gab Paolo einen Schubs. Ich konnte es nicht verhindern; doch ich wusste, dass er ihm nichts weiter antun würde. Paolos Unterlippe zitterte. Er versuchte in meinem Blick zu lesen, ob er wirklich gehen sollte. Ich nickte ihm zu. Er trat einen Schritt zurück … noch einen … dann warf er sich herum und rannte aus dem Kreis hinaus. In diesem Moment, denke ich, liebte ich ihn mehr denn je, und alles, was ich tun konnte, war, meine Gefühle hinunterzuschlucken. Dass der Mann in meinem Griff zu entkommen versuchte, half; ich bewegte meinen linken Arm, bis es in seiner Schulter knackste und er laut zu winseln begann.
    »Wie willst du aus dieser Situation rauskommen, Pfeffersack?«, fragte der Wortführer der Studenten, nachdem sie ihren Kreis wieder geschlossen hatten.
    »Lebend und unverletzt«, sagte ich wahrheitsgemäß.
    Er lachte. Ich schaute einen der anderen an. »Genauso wie du.«
    Der Student blinzelte überrascht. Ich lockerte meinen Griff um den Arm meines Gegners. »Und genauso wie er.«
    Dann passierte etwas, das meine Taktik über den Haufen warf.
    Ich hörte den Aufschrei eines Kindes.
    Paolo.
    Die Studenten fuhren herum.
    Ein grobschlächtiger Mann mit einem Lederkittel hielt Paolo hoch in den ausgestreckten Armen … Paolo zappelte und schrie … das Gesicht des Mannes war finster und blickte hasserfüllt herüber … und er drehte sich halb um und streckte sich, um Paolo auf den Boden zu schmettern.
    »Sieh mal einer an«, sagte der Wortführer der Studenten erfreut.

    Als Paolo etwa zwei Jahre alt war, fiel er die Treppe in Janas Haus hinunter.
    Es heißt, selbst der bedächtigste Mensch kann sich an zwei Dinge nur nebelhaft erinnern: Schmerz und Angst. Vielleicht sind zwei Gefühle, die man so intensiv in der Gegenwart erlebt, ausgebrannt und nicht dafür bestimmt, für eine längere Zeitspanne bewahrt zu werden. Vielleicht ist es auch eine Art Schutz davor, sie nochmals und immer wieder aufs Neue durchleiden zu müssen. Ich meine damit nicht, dass man sich nicht erinnern kann, dass man Schmerz oder Angst verspürte; ich meine, dass man nicht mehr weiß, wie sie sich anfühlten.
    An die Angst, die ich verspürt hatte, als Jana kalkweiß im Gesicht in den Saal kam und äußerlich völlig ruhig sagte: »Sieh dir mal Paolo an, er ist eben die Treppe hinuntergefallen …« – an diese Angst werde ich mich allen weisen Sprüchen zum Trotz immer erinnern … mein unerwarteter, später Sohn, mein Geschenk Gottes und einer bewundernswerten Frau … mein zärtliches, mein fröhliches, mein unschuldiges Kind … und als ich Paolo im Griff des Mannes mit der Lederschürze sah, fiel die Angst wieder über mich her und reduzierte mich zu einem Wesen, das Gott selbst ein Messer in den Rücken gestoßen und dem Teufel die Füße geküsst hätte, wenn dies verhindert hätte, dass seinem Kind etwas zustieß.
    »Ist ihm was passiert?«, hatte ich Jana gefragt, halb amüsiert.
    »Ich weiß nicht«, hatte sie geantwortet, »er bewegt sichnicht.« Und dann war sie in Tränen ausgebrochen und zu Boden gesunken.
    Die Angst …
    Ich hatte sie in Träumen nacherlebt, wochenlang, stets aufs Neue und ausgeschmückt von meinem eigenen Entsetzen. Im Traum stand ich vor der kompakten kleinen Gestalt in ihren unpassenden, auf ihre Größe zugeschneiderten Erwachsenenkleidern, am Fuß einer Treppe liegend und mit geschlossenen Augen. Die Treppe gab es nicht in unserem Haus; aber es gab auch das Haus nicht in meinem Traum, es gab nur diese Stufen und den Treppenabsatz, auf dem das Kind lag, seine stille, reglose Gestalt und mich. Im Traum bückte ich mich und kniete neben Paolo nieder; im Traum spürte ich das Entsetzen angesichts des starren Gesichtchens; im Traum schob ich ihm die Hand unter den Rücken und hob ihn halb hoch, und das Köpfchen

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