Der Sohn des Verräters - 21
und über Dom Franciscos Gesicht huschte ein Ausdruck, als hätte man ihm eine Gnadenfrist gewährt. Mikhail fing den Blick ebenso auf wie den geflüsterten Gedanken dahinter. Neben ihm zuckte Marguerida zusammen, und Rafael auf der anderen Seite wandte mit eisigem Interesse den Kopf zum Oberhaupt der Domäne Ridenow. Dom Francisco fuhr herum – er hatte vergessen, dass keine Dämpfer mehr vorhanden waren.
Keine Angst, Mik – ich sorge dafür, dass er dich nicht eigenhändig zu töten versucht. Als Mikhail den zornigen Gedanken seines Bruders vernahm, begann ihn eine Art Klarheit zu erfüllen, eine plötzliche wohltuende Ruhe, und er hoffte nur, sie würde lange genug andauern, bis er einen Plan ausgearbeitet hatte. Mit Marguerida und Rafael an seiner Seite und mit Donal im Rücken konnte er sich ganz der bevorstehenden Bedrohung widmen. Plötzlich erfüllte ihn die beklemmende Gewissheit, dass er sein ganzes Leben lang auf diesen Augenblick zugesteuert war – anders, als er es in seiner Jugend vorausgesehen und es sich als junger Erwachsener ausgemalt hatte. Nichts geschah so, wie er es sich vorgestellt hatte – und doch war es sein Schicksal.
22
Ein unheimlicher Klagelaut erfüllte ihren Traum. Katherine tastete im Schlaf auf die andere Bettseite. Als ihre Hand das leere Kissen berührte, wurde sie langsam wach und stellte fest, dass ihr Tränen übers Gesicht liefen. Herm war nicht da, und einen Augenblick lang dachte sie, das Herz müsste ihr brechen. Doch dann fiel ihr ein, dass sie bald wieder mit ihm vereint sein würde, in einem kleinen Ort namens Carcosa, und ihr Schmerz begann nachzulassen.
Aber das Geräusch aus ihrem Traum war nicht verschwunden, und sie setzte sich auf, zog die Knie an und zitterte am ganzen Leib. Es war gar kein Klagelaut, sondern etwas anderes, etwas, das sie in ihrem Leben nie mehr zu hören geglaubt hatte – eine Schifferpfeife oder wie das Instrument auf Darkover hieß. Es erklang in einiger Entfernung, aber die Melodie trug weit, und dann nahm eine zweite Schifferpfeife das Thema auf, das herzerweichend traurig war. Kein Wunder, dass sie weinte.
Kate rieb sich das Gesicht mit dem Nachthemd trocken und schluckte ein paarmal. Immer mehr Pfeifen fielen nun ein, bis es sich nach einer Weile anhörte, als würden dreißig und mehr in allen Vierteln der Stadt Thendara spielen. Obwohl Katherine die Melodie noch nie gehört hatte, wusste sie, dass es sich um ein Klagelied handelte, und es rief eine tiefe Sehnsucht nach Renney bei ihr hervor. Sie hörte im Geiste die Brandung in der Nähe des alten Pfarrhauses, wo sie aufgewachsen war, und den Klang der Schifferpfeifen beim Totenkult für ihre Mutter. So mächtig wurde die Erinnerung heraufbeschworen, dass sie beinahe das Salz in der Luft zu schmecken glaubte.
Ein Klopfen an der Tür schreckte sie auf, bevor sie sich völlig einer Flut von Gefühlen hingeben konnte. Sofort wurde sie nervös. Hatte sie bis in den hellen Tag hinein geschlafen, oder war während der Nacht etwas Schreckliches vorgefallen?
Nein, zweifellos war noch früher Morgen, sie erkannte es an dem Winkel, in dem das Licht durch das schmale Fenster ihres Schlafzimmers hereinfiel. Mit pochendem Herzen schlug sie die Decke zur Seite, schwang die langen Beine aus dem Bett und schlüpfte in weiche Hausschuhe. Das Klopfen war erneut zu hören, es klang dringend, deshalb hielt sie sich nicht damit auf, einen Morgenrock überzuwerfen, obwohl es kalt im Zimmer war, sondern raffte nur ein Umhängetuch neben dem Bett zusammen und eilte zur Tür.
Draußen stand Gisela, auf den Armen Berge von dunklem Tuch, das Gesicht kreideweiß und niedergeschlagen, das Haar war unordentlich und hing halb aus der Spange. Sie hatte ein dunkles Mal auf einer Wange, der Beginn eines blauen Flecks, und ihre Augen waren geschwollen vom Weinen. Ohne ein Wort zog Kate ihre Schwägerin ins Zimmer und legte die Arme um sie, sodass der Stapel Textilien zwischen den beiden eingeklemmt war.
„Was ist los?“ „Ich bringe dir nur die Kleidung für das Begräbnis“, antwortete Gisela mit belegter Stimme.
„Nein“, sagte Kate und berührte vorsichtig das Mal. „Was ist das? Rafael hat doch nicht …?“ Katherine und die Kinder hatten am Abend zuvor in Giselas Gemächern gegessen, und da war ihre Schwägerin noch unverletzt gewesen. Es war eine angenehme Mahlzeit gewesen, bei weitem nicht so steif wie die langwierigen Bankette an den Abenden zuvor. Sie hatten die Kinder von Gisela und Rafael
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