Der Sohn des Verräters - 21
Kammer sandte. Das hatte der Stein noch nie zuvor getan, und er tat es mit einer Heftigkeit, die schmerzte.
Mikhail wandte den Blick ab, unfähig, länger hinzusehen.
Dann schaute er wieder zum Bett, seine Augen brannten. In den Vorhängen hinter dem Kopfteil flackerte etwas, ein Spiel aus Licht und Schatten. Für einen Moment glaubte er in den Falten des Stoffs zwei Frauen zu sehen, eine hell, die andere dunkel. Sie schienen durchsichtig zu sein, und er hätte es für eine optische Täuschung halten können, hätte er das helle Gesicht nicht schon einmal irgendwo gesehen, und zwar an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit. Er sog vor Überraschung scharf die Luft ein, und die Vision verschwand. Sein Herz schlug heftig, und das Blut rauschte durch seine Adern, dass ihm schwindlig wurde. Die blonde Frau war Evanda, die Frühlingsgöttin, und die andere musste Avarra, die Dunkle Göttin, sein. Trotz der Trauer, die sich seiner bemächtigte, stieg auch eine andere Empfindung in ihm auf, die einer jenseitigen Ruhe.
Neben ihm weinte Marguerida lautlos, die Tränen liefen ihr über die bleiche n Wangen. Mikhail legte den Arm um sie und zog sie sanft an seine Brust, wobei er sich gestattete, für einen kurzen Moment alles auf einmal zu fühlen. Er konnte noch nicht recht glauben, dass es vorbei war. Irgendwie hatte er in der Tiefe seines Herzens mit einem Wunder gerechnet, und nun war er erfüllt von einem großen Gefühl der Leere und des Versagens, weil es nicht eingetreten war. Was für ein Narr er doch war.
Danilo Syrtis-Ardais verließ seinen Platz im Schatten des Bettvorhangs. Der Friedensmann stellte seinen Becher ab und beugte sich über den Leichnam im Bett. Er umfasste das Handgelenk seines Freundes und hielt es fest, sein hageres Gesicht spiegelte zugleich Wachsamkeit und Resignation wider.
Nach einer Minute löste er Danis Hand von der seines Vaters und faltete Regis’ Arme sorgfältig über der Brust. Danilo blickte in das leblose Gesicht des Mannes, der mehr als vierzig Jahre sein Gefährte gewesen war. Er berührte leicht die Stirn und strich über das weiße Haar, sein Blick war unendlich zärtlich. Dann beugte er sich hinab und küsste die bleiche Wange seines Herrn, bevor er sich vor Schmerz bebend abwandte.
Dani Hastur sah seinen Vater lange an, ein sehnsüchtiger Ausdruck stand in seinem Gesicht. Eine Weile blieb er wie betäubt auf dem Bett sitzen, dann endlich hob er das Laken vorsichtig an und zog es über Regis Hasturs friedvolles Gesicht.
Er erhob sich mit zitternden Knien, dann beherrschte er sich.
Er schloss Lady Linnea wieder in die Anne, und sie schien in seinem Griff zusammenzubrechen, als trügen ihre Beine sie zuletzt nicht mehr. Sie legte den Kopf an seine Schulter und weinte hemmungslos.
Die Einzelheiten der Szene blieben noch einige Sekunden deutlich vor Mikhails Augen stehen, bevor sie zu verschwimmen begannen, als regnete es. Er erkannte, dass die Tränen, die er zurückgehalten hatte, so lange er um das Leben seines Onkels kämpfte, sich nicht länger unterdrücken ließen. Überwältigt von der Macht seiner Gefühle drehte er sich abrupt um und verließ den Raum.
Mikhail saß in dem schäbigen Arbeitszimmer seines Onkels hinter dem großen Schreibtisch, an dem Regis oft seinen Regierungsaufgaben nachgegangen war, starrte in den Kamin und weinte. Der Teppich war ziemlich abgenutzt, aber Regis hatte sich geweigert, ihn ersetzen zu lassen oder sonst etwas an dem Raum zu verändern. Die Diener durften nur fegen und Staub wischen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, an die gutmütigen Streitereien zwischen seinem Onkel und Linnea über den Zustand des Zimmers zu denken – der Disput war stets fröhlich und liebevo ll gewesen.
Er war vor Stunden hierher gekommen, unfähig zu schlafen, zu denken, zu arbeiten, die Pflicht, das Leben fliehend. Es brannte kein Feuer im Kamin, deshalb war der Raum kalt, und die Luft war abgestanden. Er hatte eine Flasche Feuerwein auf dem Schreibtisch stehen und daneben einen Becher. Der Pegel in der Weinflasche war um einiges gesunken, seit er hier saß, aber das hatte seinen lähmenden Schmerz nicht eine Spur gemindert. Er war nicht einmal betrunken. So groß war die Macht von Varzils Matrix, dass er seine Sinne nicht betäuben konnte, wie sehr er es auch versuchte.
Undeutlich fühlte Mikhail das alltägliche Treiben auf Burg Comyn um sich herum. Nicht einmal der Tod Regis Hasturs hatte das gleichmäßige Funktionieren des riesigen
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