Der Sohn des Verräters - 21
führen!
Das Rascheln von Stoff hinter ihm ließ ihn den Kopf wenden. Marguerida betrat die Kammer, sie trug ein Tablett mit mehreren Bechern darauf. Trotz allem, was sie im Lauf der Jahre gelernt hatte, tat sie hin und wieder die Arbeit einer Dienerin. Unter ihren goldenen Augen waren dunkle Ringe und neben dem sonst meist lächelnden Mund hatten sich tiefe Falten eingegraben. Ihr schönes rotes Haar klebte schlaff am Schädel, von den Locken war kaum mehr etwas zu sehen, wortlos reichte sie Mikhail einen Becher, und er roch den erfrischenden Duft von Bergminze und das unverkennbare Aroma des Honigs aus Hali. Ihre Blicke begegneten sich kurz, in Margueridas lag eine Frage, auf die Mikhail antwortete. Keine Veränderung.
Lady Linnea sah von dem Körper des Mannes auf, der mehr als drei Jahrzehnte ihr geliebter Gefährte gewesen war. Sie ließ die Schultern sinken und rieb sich die Augen, als würden sie brennen. Ihre Augen hatten die Farbe von Glockenblumen, ein helles Grau, und sie waren so jugendlich wie zu Mikhails Knabenzeit. Aber es lag keine Hoffnung darin, nur ein tiefer Kummer, der ihm das Herz zerriss.
Marguerida ging mit dem Tablett zu ihr hinüber, und Linnea nahm sich schweigend einen Becher Tee. Dann ging Sie zu Danilo Syrtis-Ardais, der am geschnitzten Kopfende des Bettes im Halbdunkel stand, und bot ihm ebenfalls einen an. Mikhail beobachtete, wie die sechsfingrige Hand des Friedensmannes seines Onkels in den Henkel des Bechers glitt, und er bemerkte die Erschöpfung und Verzweiflung in dem vertrauten Gesicht.
Marguerida stellte das Tablett auf einen kleinen Tisch und kam an seine Seite. „Dani ist gerade eingetroffen“, flüsterte sie. „Er wird jeden Moment hier sein.“
„Gut. Ich glaube, Regis wartet auf ihn. Du siehst furchtbar aus, Caria .“ „Wahrscheinlich – aber hast du in letzter Zeit einmal in den Spiegel geschaut? Ich habe Vater endlich dazu gebracht, dass er sich eine Weile hinlegt. Ach ja – Herm Aldaran ist in Thendara eingetroffen, mit Frau und Kindern. Rafael hat sie abgeholt und in seine Gemächer gebracht.“ „Was? Wieso?“ Die Welt war für Mikhail vor vier Tagen stehen geblieben, und er hatte nahezu vergessen, dass außerhalb dieses Raums noch etwas existierte.
Er bekam jedoch keine Antwort auf seine ungläubige Frage, denn in diesem Augenblick betrat Danilo Hastur, Regis’ Sohn, das Zimmer. Er trug ein braunes Übergewand und eine schwere Hose, und er roch nach Schweiß und Pferd, ein gesunder Geruch gegen die stickige Luft in der Kammer. Er war nun ein kräftiger Mann von dreißig Jahren, nicht mehr der schlanke Junge, an den sich Mikhail so liebevoll erinnerte. Er lebte mit seiner Frau und den Kindern auf der Domäne Elhalyn, die sich von der Westseite des Sees von Hali bis zum Meer von Dalereuth erstreckte, und man sah ihm an, dass er einen langen und harten Ritt nach Thendara hinter sich hatte.
Linnea ließ beim Anblick ihres Sohnes den Becher aus den gefühllosen Händen fallen, so dass sich der Tee über ihr zerknittertes Gewand ergoss. Ihre blauen Augen füllten sich mit Tränen. Dani umarmte sie zärtlich, als fürchtete er, sie könnte in seinem Griff zerbrechen, und küsste sie sanft auf die Wange. Sie hielten sich einen Augenblick fest, ihr Kopf ruhte an seiner Schulter. Dann ließ er sie los und trat ans Bett.
Dani Hastur stand neben dem Krankenlager und sah auf die reglose Gestalt seines Vaters unter den Laken. Dann setzte er sich, nahm Regis’ Hand in die seine und streichelte sie leic ht.
Der Kranke rührte sich nicht. Nur das kaum merkliche Heben und Senken der Brust zeugte davon, dass er noch lebte.
„Vater.“ Danis Stimme versagte bei dem Wort. „Ich bin es, Dani.“ Die Stille im Raum wurde nur durch Danis keuchenden Atem und das Schluchzen von Lady Linnea gestört. Mikhail beobachtete die Szene und spürte eine leichte Veränderung bei dem Mann im Bett. Einen kurzen Moment zog sich ihm das Herz in der Hoffnung zusammen, Regis würde aufwachen und zu seinem Sohn sprechen. Doch stattdessen sah er nur ein schwaches Beben über die Gestalt im Bett laufen, und wusste, er hatte vergeblich gehofft. Regis-Rafael Felix Alar Hastur y Elhalyn lebte nicht mehr.
In diesem Augenblick erfasste Mikhail eine seltsame Empfindung, ein warmer Hauch auf seinem Gesicht und ein Kribbeln in der rechten Hand. Er sah auf die schimmernde Matrix an seinem Finger hinab und beobachtete erstaunt, wie sie hell aufleuchtete und kleine Blitze in die Düsternis der
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