Der Sohn (German Edition)
beziehungsweise meine Zeugenaussage. Es fragte sich, ob Tess je vor Gericht aussagen wollte.
Vielleicht würden sie auch den noch unbekannten dritten Mann finden. Mit ein wenig gutem Willen der Justiz würde Raaijmakers in Untersuchungshaft kommen, ein paar Monate.
Und wenn der Fall seriös abgehandelt wurde, würde er wohl hinter Gitter wandern. Zehn, zwölf Jahre? Bei guter Führung wäre er dann nach fünf Jahren wieder draußen, so war das in unserem Land nun mal. Niemand würde ja im Einzelnen wissen, was für ein Monster er war.
Aber würde Tess je wieder werden, wer sie war? Würde ihre Seele nicht verkrampfen und verdorren wie ein Pflanze ohne Wasser und Licht, wenn die Aussicht bestand, dass ihr Alptraum später wieder auf freiem Fuß sein würde?
Und unsere Beziehung zueinander? Mit den für immer in ihr Hirn gebrannten Bildern von einer Mutter ohne Würde, einem Vater in seinem Blut – in ihren Augen würden wir ein für alle Mal Menschen sein, die nicht imstande waren, sie und uns selbst zu schützen.
Ihre einzige Stütze war Mitch, aber der würde fort sein, weit fort, auf irgendeiner Militärbasis, um für ein obskures Ziel zu kämpfen, etwas so viel Größeres als er, dass sie es nie begreifen würde.
Auch ein Umzug in die Staaten würde wenig an alldem ändern, weder an der Angst (und zu Recht: Iezebel und Tara würden zurückbleiben und einer ebenso großen Gefahr ausgesetzt sein wie wir zuvor) noch an dem Wissen, dass jemand, der uns nach Strich und Faden vernichten wollte, nach Absitzen seiner Strafe wieder frei sein würde, um weiter seinen Hass auszuleben.
Das war nicht genug.
Das war nicht genug.
133
Beim Frühstück sind wir alle mit unseren Gedanken woanders. Eine lastende, unbehagliche Stille hängt zwischen uns, die im scharfen Kontrast zu der fröhlichen, euphorischen Feststimmung des vorigen Tages steht. Ich habe nicht mehr geschlafen. Mein Magen streikt, ich kann nichts essen. Tess auch nicht. Sie sieht erschöpft aus in ihrem alten schwarzen Shirt, das sie auch gestern schon anhatte. Ihre Haare sind ungekämmt, ihre Haut ist rot und fleckig. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als sie an mich zu drücken und nie mehr loszulassen, aber ich weiß, dass das nicht geht.
Mitch, nach seiner wochenlangen Diät immer noch ausgehungert, kostet den Luxus eines Morgens ohne militärische Disziplin aus und lässt sich alles schmecken, was das Frühstücksbüfett hergibt. Er isst selbstvergessen, kaut, wie mir scheint, auf Gedanken und etwaigen Lösungen, eine halbe Stunde am Stück.
Wenn ich Tess anschaue, die meinen Blick sorgsam meidet, wie sie es in den letzten Wochen jeden Morgen getan hat, wird mir nur allzu bewusst, dass ich mit ihr reden muss und das so schnell wie möglich – nur scheint mir jetzt nicht der geeignetste Moment dafür zu sein. Immer wieder sehe ich sie an, als könnte ich sie telepathisch damit erreichen und das Gespräch mit ihr führen, ohne etwas sagen zu müssen. Ich habe nichts dazu gesagt, dass sie die halbe Nacht nicht im Zimmer war, tue so, als hätte ich es nicht bemerkt.
Jacob habe ich heute Morgen noch nicht gesprochen. Mit Widerwillen denke ich daran, in die Niederlande zurückzumüssen, aber ich kann es kaum erwarten, Jacob alles zu erzählen. Doch lieber nicht am Telefon.
Beim Einchecken gibt Mitch sich äußerst zuvorkommend. Schweigend, aber entschieden lotst er uns durch alle Rituale. Diese Erwachsenheit ist neu, aber ich bin zu abgekämpft, um sie richtig würdigen zu können, und nehme seine Führung einfach nur dankbar an. Dabei setze ich alles daran, möglichst aufgeräumt zu wirken.
Ich darf mir einfach nicht anmerken lassen, dass ich Bescheid weiß, obwohl mir die Worte der letzten Nacht unablässig durch den Kopf gehen und mein Hirn martern, obwohl sich mir der Magen zusammenzieht und mir unwillkürlich Tränen in die Augen schießen, wenn ich Tess anschaue, mit ihren weichen Öhrchen, mit ihren langen, schlanken Fingern, die ein Etikett von einem Glas pellen, mit ihrer glatten Haut, den lieben jungen Schultern, dem rührend linkisch-eleganten Gang. Sie hat mich vor sich gesehen bei dem, was ihr zugestoßen ist; bei den Schmerzen, die sie erlitten hat, bin ich, ihre Mutter, die Bildtapete gewesen. Er hat mich zur Quelle ihrer Demütigung gemacht, dieser fiese, dreckige Faschist.
Ein Mann, der uns mehr hassen muss, als wir je gehasst worden sind. Beziehungsweise, als Jacob, Tess und ich es je zuvor am eigenen Leib erfahren haben.
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