Der Sohn (German Edition)
auch immer unwahrscheinlicher vor, dass sich die Briefe noch finden würden und ich sie je mit eigenen Augen zu sehen bekäme. Ja, ich fragte mich sogar, ob ich mir die Beichte des geknickten Dieter von Felsenrath nicht vielleicht eingebildet hatte. Ich hatte an dem Abend viel Wein getrunken, er auch. Und überhaupt, was war denn, wenn es die Briefe tatsächlich gab und sie je wieder auftauchten? Ungelesenes und dann auch noch Verlorengegangenes verhieß immer größere Offenbarungen, als es in Wirklichkeit zu bieten hatte. Worauf war ich eigentlich aus? So vieles war zerstört und im Chaos der Geschichte verschwunden, warum sollten ausgerechnet hier Antworten und neue Erkenntnisse zu finden sein?
Und dann kam der Tag, da deutlich wurde, dass es vorbei war mit dem vermeintlichen Einfluss meines Vaters auf das Schicksal.
Zu der Zeit nannte ich es noch so: Schicksal. Inzwischen weiß ich es besser.
Das Wetter war nass und herbstlich. Wehmütig hatte ich mit angesehen, wie der Wind immer unerbittlicher das verdorrte Laub von den Bäumen blies. Eine Weile waren die Straßen mit einer dicken Schicht raschelnder goldener Flocken bedeckt. Bis der richtige Novemberregen einsetzte, konnte man diese Laubhaufen noch mögen, darin herumwaten und sie hochwirbeln lassen und sich einbilden, es würde immer so bleiben, so traumhaft und erstaunlich mild und freundlich.
Ich hatte den Herbst immer schon gemocht, aber noch viel mehr, seit wir in Overveen am Rand von Wald und Dünen wohnten, wo sich Farben und Atmosphäre in dieser Jahreszeit so dramatisch veränderten. Ich mochte die Melancholie, das gedämpfte Sonnenlicht.
Aber in diesem Jahr unterstrichen all diese unschuldigen Herbstboten nur mein Gefühl, dass die Welt verging, die mir vertraut gewesen war und in der ich mich zu Hause gefühlt hatte – also kurz gesagt die Welt, in der mein Vater noch gelebt hatte. Und dazu noch Mitch, der von zu Hause weg war und in Berkeley studierte. In allem sah ich Verlassenheit und Niedergang. Die einsetzenden Regenfälle räumten dann auch mit den letzten Illusionen auf, die Bäume wurden kahl und trist, die Straßen schmutzig, das Laub schwarz und modrig.
20
Meine neuen Joggingschuhe sind binnen einer Minute nass und verdreckt. Ich versuche, nicht zu denken, aber das gelingt mir schlecht.
Mein Vater kommt nicht mehr zurück, pulst es in meinem Kopf, und mit ihm ist die Vergangenheit, die er repräsentierte, die er gelebt und uns nahegebracht hat, zu etwas geworden, was nur noch in staubigen Archiven voller zerfallender Briefe und Dokumente existiert. Ich kämpfe mit Schatten aus einer Vergangenheit, die keiner mehr für lebendig und von Belang hält, es sei denn als Material für ein spannendes Buch oder einen dramatischen Film. »Interessant« und »fesselnd«, aber kein Grund mehr für heiße Tränen der Wut oder des Kummers – wie bei meinem Vater oder, nur ein kleines bisschen weniger stark, bei mir. Für uns waren fünfundsechzig Jahre Zeit ein abstrakter Begriff. Die Vergangenheit war ein schlafendes Ungeheuer, das jederzeit wieder aufwachen konnte, um unverändert fest zuzubeißen.
Wenn man joggt, fängt man an zu sinnieren. Nachdenken wäre ein zu großes Wort, dafür macht der Körper mit seinem Keuchen und Stampfen zu viel Lärm.
Wer bin ich nur geworden?, sinniere ich. Nicht einmal mein Alter kann ich fassen – abgesehen davon, dass ich mit vierzig plötzlich feststellte, wie weit ich mich von meinem gefühlten Alter entfernt hatte (acht Jahre!). Das Bewusstsein hat sich aber gleich wieder verloren, denn obwohl das Älterwerden im Freundinnenkreis ein beliebtes Thema ist, bei dem man sich gemeinsam gruseln kann, habe ich eigentlich nie Angst davor gehabt. Ich habe Jahre gebraucht, bis ich gelernt hatte, wie man jung ist, eine junge Frau. Ich bin nie imstande gewesen, ein klares Bild von meiner Zukunft zu entwickeln (sieht man mal von einigen Traumvorstellungen ab: schreibend, an einem alten Schreibtisch in einem sonnendurchfluteten Zimmer mit hohen Fenstern; an einem Cocktail nippend, umringt von arrivierten Persönlichkeiten, die sich von wichtigen Posten her kennen; durch eine Großstadt joggend, New York, Paris, einem Taxi winkend, bewundert, lachend, erfolgsverwöhnt – Bilder aus Klischeefilmen). Ich habe etwas Starres an mir, sinniere ich, einen Konservatismus, ein Unvermögen, nachzugeben, mitzumachen, mich an die Veränderungen zu gewöhnen, die das Leben mit sich bringt. Die Welt wandelt sich so schnell.
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