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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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hereingeschossen, sie fällt beinahe über mich. Sie hat offenbar nicht erwartet, dass die Tür so einfach aufgehen würde.
    Ihre Augen sind verquollen, ihre Oberlippe ist angeschwollen, und sie hat ihre Pyjamajacke über der Hose zusammengeknotet. Ein unerwartet herausfordernder Cowgirl-Look unter diesen wahnwitzigen Umständen.
    Ich blinzle durch plötzliche Tränen hindurch, um meine Verzweiflung zu vermitteln, aber das ist gar nicht nötig. Ganz vorsichtig zieht sie mir das Klebeband vom Gesicht.
    Eine Art Brüllen entfährt meinem Mund. Tess ist schon mit meinen Händen befasst. Sie hat eine Schere, wie ich jetzt sehe.
    In nicht mal einer Minute bin ich frei und kann sie in die Arme schließen, so fest es geht. Sie schiebt mich weg, ich tue ihr weh. Jetzt erst sehe ich die roten Druckstellen auf ihren Armen.
    Sie fühlt sich verspannt an, hart. Ich erschrecke über ihren Blick, der verschleiert ist, fremd, entschlossen.
    »Sie sind weg. Ich hab schon die Polizei angerufen«, sagt sie.
    Auch ihre Handgelenke sind blutunterlaufen. Jetzt sehe ich auch, dass alle Knöpfe ihrer Pyjamajacke abgerissen sind, an zwei Stellen sind sogar Löcher, wo vorher die Knöpfe saßen. Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen.
    »Ach, meine liebe Tess«, sage ich.
    Aber sie hat keine Zeit.
    »Wo ist Papa?«, fragt sie sachlich. »Komm, wir müssen ihn finden.«
    »Wieso bist du dir so sicher, dass sie weg sind?«
    »Ich habe sie weggehen sehen.«
    »Wie?«
    »Vom Dachfenster aus. Sie kamen mit einem Handkarren voller Sachen aus dem Haus und sind zu einem Lieferwagen gegangen. Der stand einfach in der Auffahrt. Sie haben den Wagen ins Auto gerollt, und weg waren sie.«
    Tess redet monoton und ungeduldig, aber präzise. Sie sieht mich nicht an.
    »Wenn du das Kennzeichen wissen willst – hab ich nicht gesehen. Es war noch zu dunkel.«
    »Wie hast du dich denn bloß befreien können?«
    »Ich war wohl nicht so gut gefesselt. Ich hab die Schnur am Rand von der scharfen Regalkante aufgescheuert, weißt du, und so bekam ich die Hände frei.«
    »O Gott, Tess…«
    Jetzt fällt mir Jacob wieder ein. Im selben Augenblick höre ich draußen ein Auto halten. Ich werde ohnmächtig.
    80
     
    Als ich wieder zu mir komme, immer noch am selben Fleck, steht ein Polizist neben mir. Zwei andere gehen im Zimmer umher, sie tragen Handschuhe. Tess ist weg.
    Es ist ernst. Der Polizist blickt ernst. Ich bin wahrscheinlich nur wenige Minuten bewusstlos gewesen.
    »Wo…?«
    »Ihr Mann wird ärztlich versorgt. Es steht nicht so gut um ihn, er hat sehr viel Blut verloren…«
    Der Polizist spricht schnell, es ist das effiziente Sprechtempo, das zu Raub, Mord, Verbrechen, Tod gehört. Zu extremen Verstößen gegen den normalen zwischenmenschlichen Umgang. Ich starre ihn an. Dass man uns bemerkt hat. Dass sich endlich jemand um uns kümmert nach dieser unvorstellbaren, endlosen Nacht.
    Jacob.
    »Wo ist meine Tochter?«
    »Wird gerade befragt.«
    Wut ist wie Hitze. Ich stoße ein Knurren aus.
    Der Polizist bleibt ruhig.
    »Sie wollte von sich aus aussagen, wirklich. Kommen Sie? Es steht ein Krankenwagen für Sie bereit.«
    Und ich, schwach und beugsam wie ich bin, ein Schilfhalm im Wind, lenke schon ein und nicke wortlos.
    Der Polizist geht mir voran. Meine Beine sind steif und schmerzen, als wäre ich einen Marathon gelaufen, ich komme kaum von der Stelle. Langsam stolpere ich die Treppe hinunter, ganz fremd, diese Treppe. Vor langer Zeit bin ich sie hinaufgestolpert. Ich merke, dass ich nicht daran denken kann.
    Unten herrscht ein völliges Durcheinander. Stühle liegen umgestoßen auf dem Boden, Lampen, die kaputtgegangen sind, Schränke stehen offen, unsere Mäntel liegen auf einem Haufen, überall laufen Polizisten herum. Dann diese schreckliche Blutlache im Flur und blutige Fußspuren.
    »Sehen Sie das? Ihre Fußspuren«, sage ich aufgeregt zu dem Polizisten, professionell, ich bin Verbrechensexpertin.
    »Haben wir schon überprüft – das sind wohl die Abdrücke von den Hausschuhen Ihres Mannes.«
    »Oh.«
    81
     
    Jacob sieht auf der Krankentrage bleicher und kleiner aus, als ich ihn je gesehen habe. Er hat eine Sauerstoffmaske auf dem Gesicht, ist in eine Rettungsfolie gewickelt, und Leute kümmern sich um ihn. Er scheint bewusstlos zu sein.
    Als ich seinen Namen sage, meine ich zu sehen, dass sich seine Wimpern bewegen, aber ganz sicher bin ich mir nicht. Ich drücke kurz seine Hand. Die seine bleibt schlaff.
    »Ist er bewusstlos? Er ist doch

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