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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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nur die Treppe hinauf.
    Er will mich vergewaltigen, davon bin ich jetzt überzeugt.
    Hätte ich doch Papas Pistole. Oh, könnte ich doch auf diese Sturmhaube schießen, aus unmittelbarer Nähe! Sein Blut auf all dem Schwarz sehen! Er würde fallen, meine Treppe hinunterstürzen. Ein dumpfer Aufprall, ein unvergleichlicher Triumph.
    »Schneller, schneller!«
    Ich kann nicht mehr laufen, so sehr zittern meine Beine, sie verweigern mir den Dienst, ich sacke in mich zusammen. Der Mann zieht mich hoch, schubst mich weiter, ungeduldig keuchend, mit harten, kurzen Stößen gegen meinen Rücken, meinen Hintern am unteren Ende des T-Shirts, unter das er bestimmt schielt, unter mir auf der Treppe. Aber er schubst mich, als fasste er mich lieber gar nicht an, als wäre ich kein Mensch, als ekle ihn vor mir, als verachte und hasse er mich. Dabei riecht er eklig. Es ist ein fader, penetranter Geruch nach fremdem, ungewaschenem Fleisch, Schweiß. Nichts weiß dieser Mann von mir, er hat sich maskiert, um nichts empfinden zu müssen, um unsichtbar sein zu können. Nichts an mir weckt sein Mitleid oder seine Sympathie. Er wird uns vergewaltigen, er wird uns ermorden. Ich habe solche Schmerzen in der Brust, dass mir ist, als müsste ich zerspringen. Was erwarte ich denn von den Menschen? Auch diesem Mann ist mein Leben gleichgültig. Das ist der große Unterschied zwischen uns: Gleichgültig lässt er mich nicht. Ich möchte nur zu gern wissen, warum dies geschieht, wer er ist, warum er dies tut. Das hat er mir voraus, dass er genug über mich weiß und ich nichts über ihn. Genug über uns weiß, um uns all dessen zu berauben, was wir besitzen und woran wir hängen. Aber auch so wenig, dass er uns kaltblütig töten könnte, ohne dass es ihm weh täte. Ohne Gewissen hat man bestimmt viel mehr Spaß.
    Ich hasse sie beide. Für Tess’ Angst, für ihre Schmerzen und Tränen und Gott weiß was noch – das ist mehr als ausreichend, so mein Gefühl, um diesen Mann ohne Pardon mit einem stumpfen Messer zu töten, wenn’s sein muss auch mit achtzig Stichen, ins Herz, in den Bauch, in die Augen. Ich male mir aus, meine Pistole in der Hand zu haben, spüre ihr mir inzwischen vertrautes Gewicht, die Macht, die Ernsthaftigkeit. O Messer, o Pistole! Wenn meine Hände nicht gefesselt wären, ich würde sie töten, diese gesichtslosen Monstren, auf der Stelle.
    Und er weiß das bestimmt. Er hat in meinen Hass investiert, indem er sich meine Tochter gegriffen hat. Ich will jetzt nicht an sie denken, denn dann weicht auch die letzte Kraft aus meinen Muskeln.
    »Was tun Sie, warum tun Sie das? Was wollen Sie von uns? Denken Sie wirklich, Sie kommen davon? Sie werden nicht geschnappt?«
    Ich rede drauflos, wider besseres Wissen. Damit ich hörbar werde, sichtbar werde, damit ich ein Gesicht bekomme, einen Namen.
    Der Mann hinter mir, die namenlose Bestie, bleibt stumm und schiebt mich unerbittlich weiter die Treppe hinauf, zum Dachgeschoss. Ohne zu antworten dirigiert er mich zur Tür eines der beiden Gästezimmer und stößt mich hinein.
    Ich strauchle, aber falle nicht. Er setzt mich auf einen Stuhl. Unsanft und fahrig bindet er mich darauf fest, die Schnur hatte er offenbar bei sich.
    »Wo ist meine Tochter?«, schreie ich noch.
    Er verpasst mir einen harten Schlag gegen das Gesicht, dass ich Sterne sehe und sofort still bin. Daraufhin stopft er mir einen Knebel aus Zeitungspapier in den Mund, und Druckerschwärze und Staub bringen mich zum Würgen. Er klebt Paketband darüber, zieht meine Fesseln noch einmal an. Mein Körper ist wie geschient, Knöchel an den Stuhlbeinen, Schenkel auf der Sitzfläche. Als er alles gut verknotet hat, verlässt er eilig das Zimmer.
    Ich höre, wie er die Tür abschließt, seine schnellen Schritte auf der Treppe. Er geht zu Jacob zurück. Es gibt keine Hoffnung.
    77
     
    Ich sehe Blut auf meinem Shirt. Er hat mich am Ohr verletzt.
    Hoffentlich tut Jacob, was man ihm befiehlt, und sträubt sich nicht. Schaudernd denke ich an seine Schulter, seinen schweren, hilflosen Körper auf dem Boden. So viel Blut – selbst wenn man jemanden so gut kennt wie seinen Mann, befremdet sein Blut. Es darf nicht zu sehen sein. Es ist tabu. Blut, nackter geht es nicht mehr.
    Ich höre entferntes Gepolter auf der Treppe, Geschrei. Kommt jemand herauf?
    Das Poltern scheint sich zu nähern. Nein! Lass sie bitte nicht zu Tess gehen! Es wird wieder still. Geräusche sind schwer zu deuten. Eine raschelnde Papiertüte oder ein sich

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