Der Sokrates-Club
Eichhörnchen nur drei Nüsse bekommt und der Löwe fünfhundert
Wir sind wieder in der Gebeleschule. Der Engel hat heute sogar zwei Mützen über sein Gesicht gezogen und sieht wie ein mürrischer Pirat aus.
Heute wollen wir über das Thema » Gerechtigkeit« reden. Könnt ihr euch etwas darunter vorstellen?
Sofort gehen ein paar Hände in die Luft.
» Ungerecht ist es, wenn ich zum Beispiel in Mathe eine Zwei hab und mein Nachbar, der genau die gleichen Fehler hat, eine Eins bekommt.
Das wäre nicht gerecht«, sagt ein Junge mit dicken Brillengläsern.
» Oder mein Bruder kriegt zu Weihnachten ein Fahrrad geschenkt und ich einen alten Keks!«, wirft ein Junge ein.
Die Kinder lachen.
Ich verstehe. Heißt das, dass jeder immer gleich viel bekommen muss, damit es gerecht zugeht?
Die Kinder denken nach, manche murmeln etwas zu ihrem Nachbarn. Dann meldet sich das blonde Mädchen mit den großen blauen Augen, das sich schon in der vorangegangenen Sitzung rege an der Diskussion beteiligt hat: » Also, wenn ein Eichhörnchen drei Nüsse bekommt und der Löwe fünfhundert, dann ist das nicht ungerecht, und zwar, weil der Löwe doch viel mehr braucht als ein Eichhörnchen.« (Mehr wissen)
» Löwen essen keine Nüsse«, murmelt ein Junge mit einem Spiderman-T-Shirt.
Das Beispiel mit den Noten zeigt uns, dass es manchmal um » Leistungsgerechtigkeit« geht, also darum, die gleiche Leistung gleichermaßen zu bewerten. Das Beispiel mit dem Eichhörnchen und dem Löwen illustriert hingegen » Bedürfnisgerechtigkeit«, also dass es unter bestimmten Bedingungen gerecht sein kann, Güter ungleich zu verteilen. Könnt ihr mir noch andere Beispiele für Ungerechtigkeiten nennen?
» Die Jungs wollen immer nicht, dass wir Mädchen beim Fußball mitspielen. Die grenzen uns aus, und das finde ich schon ungerecht«, sagt ein Mädchen mit roten Haaren.
Und was genau ist daran ungerecht?
» Weil Mädchen die gleichen Rechte wie Jungs haben müssen«, sagt ein Junge mit einem Ringelpullover.
» Ja, aber wir wollen andere Spiele spielen als ihr!«, sagt der Junge mit der dicken Brille. » Und wenn wir gegeneinander Fußball spielen würden, dann würdet ihr immer gegen uns verlieren. Und das wäre dann auch nicht gerecht, oder?
Wäre es gerecht, wenn bei den olympischen Spielen Sportlerinnen und Sportler in den einzelnen Disziplinen gegeneinander antreten müssten?
» Nein«, ruft ein Mädchen, » weil Frauen nicht so starke Muskeln haben wie Männer, deswegen wäre das unfair, die Männer würden immer die ersten Plätze belegen.«
Jungs und Mädchen sind also unterschiedlich, aber haben sie deshalb unterschiedliche Rechte?
» Nein!«, rufen die Kinder im Chor.
Ich gebe euch ein anderes Beispiel. Vor etwa fünfzig Jahren durften Frauen ohne Genehmigung ihres Mannes keine größere Summe Geld ausgeben, wusstet ihr das?
Die Kinder schütteln die Köpfe, manche lachen.
In Saudi-Arabien dürfen Frauen auch heute nicht Auto fahren. Ist das gerecht?
» Ich finde das total ungerecht«, sagt ein Mädchen mit langen Zöpfen.
» Mein Papa kommt aus Riad«, sagt ein dunkelhaariges Mädchen, » und meine Oma und meine Cousins wohnen da, und meine Mama darf dann dort auch nicht fahren. Aber das macht ihr nichts aus, weil dann eben der Papa fahren muss. Da ist es einfach anders als hier.«
Glaubt ihr, es gibt Rechte, die überall gelten, und Rechte, die man nur an manchen Orten hat?
» Also, Kinder zum Beispiel, die darf man nirgendwo klauen!«, meint ein kleiner Junge, während er sich am Kopf kratzt.
» Genau«, sagt sein Nachbar, » und niemand darf jemandem etwas wegnehmen!«
» Oder wehtun!«, ruft ein Mädchen.
Kommen wir zu deinem Beispiel zurück, dass die Jungs die Mädchen beim Fußballspielen nicht mitmachen lassen. Was genau ist daran ungerecht?
» Na ja, dass einige eben nicht das machen dürfen, was die anderen machen. Und das ist doch ungerecht!«, sagt der Junge mit dem Ringelpullover.
Das ist nicht nur ein Problem, das bei euch auftritt. Auch unter Erwachsenen ist das Ausgeschlossensein ein Problem. In unserer Stadt zum Beispiel gibt es Menschen, die sind zu arm, um das zu tun, was andere tun können. Sie können zum Beispiel nicht ins Kino gehen, auch nicht ins Theater oder in ein Konzert. Ein Aspekt von Gerechtigkeit ist also die Einbeziehung von allen. Jürgen Habermas, ein Philosoph, der in Starnberg, also ganz in der Nähe von München wohnt und recht bedeutend ist, hat darüber ein Buch geschrieben,
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