Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Gefühle wirklich ermessen kann, könnte sie das unheilbare Zerwürfnis zwischen ihren geliebten Töchtern halbwegs ertragen.
Doch vorerst sitzt sie nur da und spürt, was Alleinsein bedeutet. Sie sieht hinaus auf die Platanen mit den gelblich vertrockneten Blättern, reglos in der heißen Luft. Sie hat die Hände gefaltet und ihre Füße gekreuzt. Mit dieser schlichten Geste will sie der Einsamkeit etwas entgegensetzen: Es ist, wie es ist. Unten klappert Monica mit Geschirr. Aoife verbarrikadiert sich in ihrem Zimmer. Und Michael Francis ist irgendwo in Deckung gegangen, wo er unbehelligt bleibt.
Die Bäume mit den verschrumpelten Blättern vor dem Fenster, denkt sie, könnten auch ein Foto sein, so still sind sie.
Aoife kam drei Wochen zu früh. Gretta war mit Michael Francis und Monica auf dem Heimweg vom Kaufmannsladen, als die Fruchtblase platzte. Eine peinliche Szene blieb ihr aber erspart, denn es war Anfang Februar, und ihr dicker Mantel und die Wollstrümpfe nahmen die meiste Flüssigkeit auf.
Sie wollte ihre Einkaufstasche Michael Francis in die Hand drücken. »Hier, trag du das mal.«
Doch Michael Francis tat so, als hätte er sie nicht gehört, und ging einfach weiter.
Zum Glück sprang ihr Monica bei. Monica mit den ordentlichen Zöpfen und dem Mittelscheitel so gerade wie ein Kreidestrich.
Gretta tätschelte ihr auf die Schulter. »Nein, lass, die Tasche ist doch viel zu schwer für dich, Schatz.«
Monica sah sie an, und Gretta spürte ihren Blick wie die Flamme eines Gasbrenners auf der Haut. Vor Monica konnte sie noch nie etwas verbergen, Monica merkte immer alles, da konnte sie sich verstellen, wie sie wollte. Monica konnte noch nicht einmal sprechen, da besaß sie diese Fähigkeit, Gretta zu durchschauen. Doch das galt auch umgekehrt, Gretta wusste immer, was in Monica vorging, und sehr bald hatten sie sich an die unsichtbare Telegraphenleitung zwischen ihnen gewöhnt, in denen unbemerkt den ganzen Tag Nachrichten hin- und herliefen.
»Lass mal«, sagte sie abermals zu ihrer Tochter.
Da nahm ihr Monica die Einkaufstasche ab und gab sie ihrem Bruder, der zehn Monate älter und zwei Köpfe größer war als sie. Anschließend kehrte sie an Grettas Seite zurück und nahm ihre Hand. »Geht’s dir nicht gut, Mammy?«, fragte sie, das kleine, nach oben gerichtete Gesichtchen blass vor Angst.
»Nein, es geht schon, Spatz«, sagte Gretta trotz der Schmerzen. »Das wird schon.«
Zu Hause angekommen machte ihr Monica erst einmal einen Tee, und Gretta brachte es nichts übers Herz, ihr zu sagen, dass ihr in diesem Moment schon bei dem Gedanken an Tee speiübel wurde. Gretta schickte Michael Francis nach nebenan, wo sie ein Telefon hatten, damit jemand Robert anrief. Seine Durchwahl in der Bank lag schon seit Wochen in der Küche.
Unterdessen krallte sich Gretta an die Rückenlehne, denn die Wehen kamen jetzt immer öfter und ließen ihr fast keine Pause mehr. So schnell war es bei den anderen Geburten nicht gegangen. Und plötzlich stand auch die Nachbarin im Zimmer. Sie hatte vier Kinder, drei Untermieter, und der Mann war im Krieg geblieben. Sie wohnte schon ihr ganzes Leben in der Gillerton Road. Sie und Gretta sahen sich an, und Gretta wusste, dass dieser Blick wie immer von Monica abgefangen und richtig gedeutet wurde. Selbst ohne Worte verstand Monica die Situation sofort.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte die Nachbarin.
Gretta wollte den Stuhl loslassen, aber das war zu viel. Ihre Arme waren schon gefühllos und prickelten wie tausend Nadelstiche. »Jetzt dauert es nicht mehr lang«, sagte sie, doch ihre Stimme war merkwürdig verwaschen. »Freut ihr euch auch auf eure …«
»Dad war nicht da«, sagte Michael Francis, scheinbar aus riesiger Entfernung.
»Was?«, sagte Monica.
Ruhe bitte, wollte Gretta sagen, seid still, Mammy muss sich konzentrieren.
»Er war nicht da. Wir haben angerufen, aber er war nicht da.«
»Und wo ist er?«, fragte Monica.
»Weiß nicht. Sie sagten, wo er ist, wissen sie nicht.«
»Bist du … sicher?«, sagte Gretta und presste jedes Wort einzeln hervor. »Habt ihr euch nicht verwählt?«
Die Kinder sahen sie an. Ihre Kinder. Aber im matten Februarlicht waren die blassen, ovalen Gesichter so weit weg. Auch was danach geschah, geht in ihrer Erinnerung arg durcheinander. Sie weiß aber, dass die Nachbarin kam und sagte, der Krankenwagen sei unterwegs, er müsse jeden Moment da sein. Worauf Gretta sagte, sie steige in keinen Krankenwagen – weil sie auf
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