Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
ihren Mann warten müsse. Und irgendwie hatte man dann Michael Francis und Monica zu den Nachbarskindern geschickt, denn dort gebe es Weißbrot mit Marmelade. Das Baby wartet aber nicht auf deinen Mann, sagte die Nachbarin und schnappte sich, gerade noch rechtzeitig, die Vase vom Kaminsims, damit sich Gretta darin erbrechen konnte.
Dann lag sie auf einmal auf dem Boden, und die Nachbarin war bei ihr, nahm ihre Hand und sagte: Pressen Sie mit, Mrs Riordan. Doch alles, woran Gretta denken konnten, waren die Laken. Die Nachbarin hatte nämlich jede Menge Laken auf dem Teppich ausgebreitet, aber es waren die falschen Laken, die guten Laken, wie Gretta einwenden wollte, die Laken aus dem Wäscheschrank, sie müsse die alten nehmen, und die seien im Schuppen. Ihre Worte drangen jedoch nicht durch, weil sie die Zähne so stark zusammenbiss. Pressen, sagte die Nachbarin, es ist bald geschafft. Aber Gretta wollte nur sagen: Sei still, halt die Klappe, wo bleibt mein verdammter Mann. Dann schlug eine große graue Welle über ihr zusammen, und auf einmal kamen, riesengroß in ihren Uniformen, Sanitäter ins Zimmer und auf sie zu, und Gretta fand die Kraft, aufzustehen und zu fragen: Kann ich jetzt ins Krankenhaus?
Doch die Männer (eigentlich eher junge Burschen) nahmen sie am Arm und sagten: »Leider nein, dazu ist es jetzt zu spät. Legen Sie sich wieder hin, Missis.«
»Es geht nicht«, brachte sie hervor, »Ich kann nicht, ich …« Sie brach ab, weil sie plötzlich merkte, dass noch jemand im Zimmer war. Sie blickte zur Tür und sah ein Paar dünne Beine mit grauen Kniestrümpfen. Da schrie Gretta: Schmeißt das Kind raus, schnell, schmeißt das Kind raus. Und dann: Monica, verschwinde von hier, geh nach nebenan, sofort. Doch Monica rührte sich nicht. Um Himmels willen, schrie sie, schmeißt das Kind raus, sie ist erst zehn Jahre alt. Doch niemand hörte mehr auf sie, und die Sanitäter sagten: Zu spät, wir sind schon mittendrin. Und dass sie drücken solle, immer drücken. Jemand zog sie ans Sofa, sodass sie sich anlehnen konnte. Aber wo in Gottes Namen war Robert oder Ronan oder wie immer er sich nannte, wo zum Henker bleibt mein Mann, hörte sie sich rufen und das, obwohl Monica noch im Zimmer war. Sie konnte ihre Tochter zwar nicht sehen, wusste wegen der unsichtbaren Telegraphenleitung jedoch, dass sie da war. Erst im allerletzten Moment, kurz bevor das Baby in die Hände des Sanitäters flutschte, besaß die Nachbarin die Geistesgegenwart, das Kind vor die Tür zu schieben.
Vom ersten Tag an war Monica für Gretta wie ein aufgeschlagenes Buch, anders als bei den beiden anderen, die ihr nie so nahestanden. Daher wusste sie auch, als sie im Krankenwagen zu sich kam, allein mit dem kleinen Schreihals, dass sie vielleicht nicht alles mitbekommen hatte, aber immer noch viel zu viel – und dass sie es nie vergessen würde.
Monica dreht ihre Finger um das Hörerkabel, bis sie ganz mit schwarzem Plastik umwickelt sind.
In Gloucestershire läutet das Telefon eine Ewigkeit. Monica will schon auflegen, weil Peter mit den Kindern wahrscheinlich schwimmen oder zu Freunden gegangen ist, als sich endlich eine Stimme meldet, die im Vollbewusstsein ihrer eigenen Wichtigkeit verkündet: »Hallo, hier Camberden drei-acht, drei-vier.«
Monica wundert sich, wie eines der Kinder ihre Nummer so flüssig aufsagen kann, und ist erst einmal sprachlos. Dann nimmt sie sich zusammen und sagt: »Jessica, Schätzchen, bist du das?«
Es kommt zu einer unangenehmen Pause. Jede Seite hört die andere atmen.
»Jessica?«, versucht es Monica erneut. »Bist du das? Oder Florence? Du bist Florence, nicht wahr?«
»Wer ist da?«, sagt das Kind ebenso deutlich wie hochmütig.
»Es ist Monica, Schatz. Habt ihr ein schönes Wochenende? Ist Daddy …«
Doch die Stimme schneidet ihr das Wort ab. »Wer?«
Monica entfährt ein nervöser Lacher, als sie versucht, ihre Finger aus der Schnur zu wickeln, und es nicht schafft. Der längste Finger, der Nachbar des Zeigefingers – wie heißt er eigentlich? – will sich nicht aus dem Spiralkabel lösen. »Aber ich bin’s doch, Monica, deine … Daddys … nun ja …«
»Wer?«, fragt das Kind erneut.
Monica holt tief Luft und krallt ihre Fingernägel in die Handfläche. »Kannst du mal Daddy holen und ihm sagen, dass ich ihn sprechen will.«
Wieder diese hässliche Pause. Dann hört sie nur noch, wie aufgelegt wird, dieses Geräusch ist ja unmissverständlich.
Einen Moment steht Monica fassungslos
Weitere Kostenlose Bücher