Der Sommer deines Todes
wirkt sehr professionell und ist wie aus dem Ei gepellt. Er ist mit einer Glock Kaliber . 22 und einem Gewehr bewaffnet. Zu seinen Füßen liegt ein schwarz gekleideter Mann, der offenbar tot ist.
Als Karin mit Kopfverband und von Blutergüssen überzogenen Armen aus dem Cabrio krabbelt, stockt Mac der Atem. Sobald sie sich aufgerichtet hat, schließt er sie wortlos in die Arme, genießt ihre Nähe und saugt den antiseptischen Geruch in sich auf, der von ihr ausgeht und ihn daran erinnert, dass sie einen Unfall hatte und im Krankenhaus war.
«Was ist dir widerfahren?», flüstert er in ihr Ohr.
«Wir müssen Ben finden.»
Kapitel 21
D as Gewehrfeuer erschreckt Mary zu Tode und erinnert sie an jenen Moment, als Fremont und Dathi geflohen sind, an den Schuss, der kurz danach abgegeben wurde, an die brutale Erkenntnis, dass einer von ihnen tot ist.
Es dauert eine Weile, bis sie die Beine bewegen, die Füße auf den Boden stellen und sich aufsetzen kann. Prompt verschwimmt alles vor ihren Augen. Mit tiefen Atemzügen hofft sie, den Schwindel und ihren knurrenden Magen in den Griff zu kriegen. Sie hat ganz bewusst nichts gegessen, denn der Hunger verschaffte ihr Glücksgefühle und erlaubte es ihr, diesem grässlichen Ort zu entfliehen und im Kopf einen Film abzuspielen:
Sie ist in ihrem alten Apartment in Greenpoint, wo sie, die Ärmel hochkrempelt, mit Alma renoviert. Irgendwann entscheiden sie sich für ein Kind und trennen sich vier Jahre später. Der Mieter, der nach ihnen das Loft bezieht, zahlt ihnen für die Renovierung einen Abstand. Da sie das Kind ausgetragen und starke Muttergefühle entwickelt hat, besteht sie nach der Trennung darauf, Fremont alleine großzuziehen. Sie kämpft um ihren Sohn und verbietet der Frau, die sie betrogen und ihr Herz gebrochen hat, Fremont zu sehen. Sie teilen sich den Abstand, aber nicht das Kind. Sie ist todtraurig und allein, aber dank Fremont ist Einsamkeit ein Fremdwort für sie. Fremont Salter. Ihr über alles geliebter Sohn. Ihr Fleisch und Blut. Dieser Junge ist ihre Zukunft und führt ihr trotz Liebeskummer und Trennungsschmerz vor Augen, dass sie sich ohne Almas Zutun nicht auf die Mutterschaft eingelassen hätte.
Das Leben gleicht einem Fluss.
Man darf keine Angst haben, muss es nehmen, wie es kommt.
Bei einem Besuch im New York Aquarium erzählte sie Fremont einmal, er wäre wie ein kleiner Delfin, der auf ihrem Rücken säße, dass sie ein hervorragendes Team wären und zueinandergehörten.
«Ich sehe nicht wie du aus», konstatierte er, obwohl er zu jener Zeit gerade einmal sechs Jahre alt war.
«Tief drinnen sind wir beide gleich.» Ihr Kommentar stimmte ihn nachdenklich. «Free, du darfst nie vergessen, dass die Welt einem Regenbogen gleicht.»
Auf dem Sofa sitzend, kämpft sie immer noch gegen den Schwindel an. Der Polsterrand bohrt sich schmerzhaft in ihre nackten Kniekehlen. Auf dem groben Stoffbezug fühlt sich ihre Haut wie Reispapier an. Sie wagt es nicht, sich zu rühren. Sie stinkt nach Urin.
«Wir sind’s!», ruft draußen ein Mädchen, das genau wie Dathi klingt. Was aber nicht sein kann, denn Dathi ist auf Nimmerwiedersehen verschwunden oder tot. Und wenn Dathi auf der Flucht erschossen wurde, könnte Fremont noch am Leben sein. Und deshalb ist es vollkommen unmöglich, dass Dathi dort draußen steht und ruft, denn das würde ja bedeuten …
«Mary? Ben? Seid ihr da?» Ist das Karin, die da spricht? Mary bricht in hysterisches Gelächter aus. Jetzt fängt sie schon an, Stimmen zu hören.
Wieder ertönt ein ohrenbetäubend lauter Schuss, dessen Echo Mary durch Mark und Bein geht.
Als Nächstes fliegt die Tür auf, und da das gegenüberliegende Fenster geöffnet ist, entsteht Durchzug. Zwei Geister treten ein – eine Frau und ein Mädchen. Von jeher war sie der festen Überzeugung, dass sie ein weibliches Erlöserduo an der Himmelspforte begrüßen wird. Doch dann tauchen hinter ihnen drei Männer auf. Und einer von ihnen ist … kann das denn wirklich sein?
Mit weichen Knien erhebt sie sich und empfängt mit ausgebreiteten Armen ihren Sohn, der sich ihr mit großen Schritten nähert. Seine Berührung, seine zarte Haut, sein vertrauter Geruch, seine Umarmung spenden ihr Kraft und Trost.
«Ich kann Ben nicht finden», ruft Dathi mit ihrer glockenklaren Stimme, während sie das Haus durchsucht, das sie in- und auswendig kennt.
Ben.
Mary schlägt das Herz bis zum Hals. Nun ist der Moment gekommen, vor dem sie sich so sehr
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