Der Sommer deines Todes
gefürchtet hat. Jetzt muss sie sich zusammenreißen und die Wahrheit sagen. Diese Menschen – ihre Freunde – sind gekommen, um sie zu befreien. Und sie muss ihnen die spärlichen Informationen geben, über die sie verfügt. «Sie haben ihn mitgenommen.»
«Wann?», fragt Karin mit hochrotem Kopf und blutunterlaufenen Augen. Sie ist verletzt, hat einen Kopfverband und blaue Flecken auf den Armen, die Mary an das grauenvolle Foto erinnern, auf dem Karin gefesselt auf einen Stuhl sitzt. Und dennoch steht sie leibhaftig vor ihr! Fremont und Karin sind am Leben. Dafür ist Mary zutiefst dankbar.
«Gestern. Oder vorgestern. So genau weiß ich es nicht. Kurz nach Frees und Dathis Flucht.»
«Freitag», schlussfolgert Karin. «Also vor drei Tagen.»
Mary lehnt sich an Fremont, der sie stützt. Und als Karin sie umarmt, zwingen die Schuldgefühle sie fast in die Knie. «Es tut mir unglaublich leid.»
«Was denn?», fragt Karin sanft. «Du bist bei den Kindern geblieben und hast dich um sie gekümmert.»
«Ich habe zugelassen, dass sie Ben fortbringen.»
«Sie waren bewaffnet. Wie hättest du sie davon abhalten sollen?»
«Keine Ahnung, ich weiß es nicht …»
«Psst. Du hast alles getan, was in deiner Macht stand.»
Aber welchen Wert hat das, wenn es zu nichts führt?
Der andere Mann holt sein Handy aus der Tasche und sagt: «Ich will sehen, was ich tun kann.» Er geht nach draußen, um ungestört zu telefonieren. Mary fragt sich, wer er ist. Seinem Tonfall nach zu urteilen, will er ihnen beistehen, was Mary ein wenig aufmuntert.
«Ich habe im Haus ein Foto gefunden.» Sie räuspert sich und fährt mit festerer Stimme fort. «Darauf sind vier Personen beim Essen zu sehen: die Rossis, Blaine Millerhausen und eine ältere Frau, die meiner Meinung nach Liz Braud ist. Offenbar sind sie befreundet. Ich habe Mario Rossi eine Mail geschickt, ihn nach der Unbekannten und deren Aufenthaltsort gefragt. Sie haben mir nicht geantwortet. Und dann ist dieser Mann – er hatte eine Schlangentätowierung – aufgetaucht und hat uns entführt.»
«Warum hast du uns denn nicht über dieses Foto informiert?» Karin klingt leicht ungehalten.
Die berechtigte Frage lässt Mary zusammenzucken und verstärkt ihre Schuldgefühle. Selbstverständlich hätte sie Karin und Mac umgehend davon in Kenntnis setzen müssen. Sie gibt sich einen Ruck und zwingt sich, ganz offen zu sprechen. «Ich wollte nicht, dass ihr euch Sorgen macht.»
Karin und Mac tauschen vielsagende Blicke aus.
«Wo ist das Foto?», möchte Mac wissen.
«In meiner Geldbörse, glaube ich. Ja, ich habe es ins Portemonnaie gesteckt.»
«Und wo ist sie?»
«Keine Ahnung. Sie wurde mir von dem Typen mit dem Schlangentattoo abgenommen.»
Der andere Mann kehrt zurück. Sein Blick verheißt nichts Gutes. «Beide Frauen bestätigen, dass der Wachmann Ihren Jungen dem Polizeichef übergeben hat. Wir konnten Grecos Handy per GPS orten. Sollte er sich also in der Nähe seines Telefons befinden, kriegen wir ihn. Und Ben auch, falls der Alte immer noch bei ihm ist.»
Kapitel 22
D er Hubschrauber scheint uns hinauf zur Sonne zu tragen. Während wir auf dem Weg nach Capo Caccia, das an der Westküste liegt, die Insel überqueren, starren Dathi, Mac und Guy de Luca – sie sitzen hinter dem Piloten und dem Kopiloten – wie gebannt aus dem Fenster. Mary, zwischen Fremont und mir eingeklemmt, drückt unsere Hände. Ich fühle mich leicht benommen und mutterseelenallein. Was, wenn Ben nicht mehr bei Enzio Greco ist? Was, wenn wir meinen kleinen Jungen nicht finden? Was dann?
Keiner sagt ein Wort. Worüber hätten wir auch reden sollen? Über unsere Ängste und Befürchtungen? Was soll das bringen? Keiner der Anwesenden macht Anstalten, mir zu versichern, dass alles gut wird. Dafür kann niemand die Hand ins Feuer legen. Da ich früher als Polizistin auch Vermisstenfälle bearbeitet habe, weiß ich aus Erfahrung, dass die Suche nach verschwundenen Personen sowohl auf Fakten als auch auf Fiktion basiert. Man findet eine Spur und geht ihr nach. Landet man in einer Sackgasse, verfolgt man die nächste und dann die übernächste, bis man hoffentlich ans Ziel gelangt. Längst habe ich begriffen, dass sich die Hysterie, die das Verschwinden eines Kindes in Italien auslöst, nicht von dem Aufruhr unterscheidet, den so ein Vorfall zu Hause in den Staaten verursacht.
Minuten nachdem endlich alle zuständigen Polizeibeamten auf der Insel alarmiert wurden, gingen die ersten Anrufe
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