Der Sommer deines Todes
unglaublich brutalen Folterwerkzeugen vorbei und lande schließlich vor einem Richtblock mit einer Vertiefung für den Nacken, an dessen Fuß eine riesige Axt gekettet ist.
Da man in diesem Museum alles anfassen darf, fahre ich mit der Hand über die Mulde, beuge mich, als keiner guckt, hinunter, lege den Kopf auf den Block und schließe die Augen. Sofort schnürt es mir die Kehle zu. Ich hole tief Luft, stelle mir Gerüche wie Blut, Urin und Schweiß vor, die hier jahrhundertelang in der Luft hingen, und just in dem Augenblick, in dem ich einen Würgereiz spüre, rasselt die Kette. Ich reiße die Augen auf und entdecke einen klapperdürren alten Mann mit unheimlichem Grinsen, der die riesige Axt über meinen Kopf hält, als wolle er mich köpfen. Mit einem nervösen Kichern richte ich mich auf.
«Ich hab Ihnen einen ganz schönen Schrecken eingejagt, was, Missy?» Sein breiter Cockney-Akzent legt nahe, dass er Tourist im eigenen Land ist.
Nachdem er sich mir vorgestellt hat, setzen Robin und ich uns nacheinander auf den Verhörstuhl, was deutlich mehr Spaß macht, als man meinen könnte, und machen Fotos mit unseren Handys. Ich maile Mary eines der Bilder mit der Nachricht:
Sie haben mich erwischt!
Ich vertrödele noch eine Viertelstunde im Museumsshop und überfliege die Biographien von ein paar Gefangenen, die hier eingesperrt waren und gestorben sind: Dirnen und Schuldner, Halunken und Blasphemisten, die das Pech hatten, in einer gnadenlosen Zeit gelebt zu haben. Danach begebe ich mich mit einer Tüte voll Miniaturhandschellen, Gummiratten und Plastiktotenschädeln auf die Straße und bin dankbar, im einundzwanzigsten Jahrhundert zu leben.
Da ich immer noch nichts von Mac gehört habe, marschiere ich zum nahe gelegenen Globe. Die nächste einstündige Führung beginnt erst in dreißig Minuten. Zum Zeitvertreib durchstöbere ich den Geschenkeladen, wo ich Shakespeare-Nippes erstehe, den ich in der Tüte mit den anderen Mitbringseln für die Kinder verstaue. Spontan kaufe ich noch eine Postkarte samt Briefmarke. Jetzt kann ich meiner Mutter ganz altmodisch Grüße aus der Ferne senden.
Mit einem Kaffee quetsche ich mich zwischen die anderen Touristen, die wie aufgereihte Tauben auf einem kleinen Mäuerchen mit Blick auf die Themse sitzen, klemme den Pappbecher zwischen die Beine und schreibe mit krakeliger Schrift an meine Mutter:
Habe viel Spaß in England, vermisse jedoch die Kinder. Sardinien ist offenbar großartig – werde morgen dort eintreffen und dir berichten. Hoffe, dass bei dir in Brooklyn alles okay ist. In Liebe, Karin.
Endlich meldet sich Mac, der gerade aus dem Meeting gekommen ist. Wir verabreden, uns im Hotel zu treffen, damit wir uns vor dem Abendessen noch umziehen können.
«Ich dachte, wir würden heute Abend etwas Romantisches machen.» Beispielsweise Champagner trinken und auf dem Zimmer zu Abend essen.
«Ich erkläre es dir später», sagt Mac. Sein resoluter, leicht frustrierter Tonfall deutet darauf hin, dass es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Geschäftstermin handelt.
Mac und Karin warten an einem kleinen Tischchen, bis im Speisesaal ein Platz frei wird.
«Ich glaube, das ist er. Da drüben an der Bar.» Mac deutet mit dem Kinn auf Simon McLaughlin, den er von einem Foto kennt, das Ian Gelson ihm gezeigt hat. Er ist von mittlerer Statur, hat rote Haare, die langsam grau werden, und trägt einen anthrazitfarbenen Anzug. Während er an seinem Whisky nippt, schaut er abwechselnd auf seine Armbanduhr und die Eingangstür. Seinem Verhalten nach zu urteilen, kann er es gar nicht erwarten, dass seine Geliebte endlich eintrifft.
«Vielleicht solltest du die Gelegenheit nutzen und uns Drinks besorgen», schlägt Karin vor. «Schnapp ihn dir jetzt, bevor seine Freundin auftaucht.»
«Gute Idee.»
Mac erhebt sich, streicht sein Jackett glatt und geht an einer halbhohen Wand aus bunten Glassteinen vorbei zur Bar. Die grünen Lederhocker sind allesamt belegt. Er zwängt sich zwischen McLaughlin und einen anderen Mann, der ihm den Rücken zudreht, und versucht, den Barkeeper auf sich aufmerksam zu machen.
«Ich bitte um Entschuldigung.»
«Keine Ursache.» McLaughlin, der sich zu Mac umgedreht hat, nimmt die Sache in die Hand und ruft nach dem Kellner. «Greg, Sie haben Kundschaft. Einen Yankee, wenn mich nicht alles täuscht.» Das Timbre seiner Stimme deutet an, dass McLaughlin schon ein paar Drinks intus hat. Als Mac den starken irischen Akzent hört, muss er an
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