Der Sommer der Frauen
küsste.
Einen Augenblick lang ließ sie sich von seinen weichen, kräftigen Lippen überwältigen, von dem frischen Seifenduft, von der breiten Brust und der fremden Männlichkeit. Doch dann gewann genau diese Fremdheit die Oberhand: Sie küsste einen Mann, den sie vor anderthalb Wochen noch nicht mal gekannt hatte. Isabel löste sich aus der Umarmung.
«Es tut mir leid», sagte sie. «Es fühlt sich … fremder an, als ich dachte. Es ist noch keine zwei Wochen her, seit ich von Edwards Affäre erfahren habe. Und ich war wirklich blind. Ich meine, mir war klar, dass wir Probleme haben, dass zwischen uns ein riesiges Thema stand, aber ich hätte niemals gedacht, dass er –» Isabel verstummte abrupt und seufzte. «Darüber sollte ich jetzt eigentlich gar nicht sprechen, oder?»
«Kein Sollen, kein Müssen. Keine Vorschriften. Außerdem weiß ich, wie es dir geht. Haargenau.»
Sie fing an zu weinen, und er nahm sie in die Arme. So standen sie da, am Ende der Brücke, bis eine Horde Teenager an ihnen vorbeikam und ein Junge rief: «Besorgt euch ein Zimmer!» Es herrschte allgemeines Gekicher, und als die Schritte verhallten, mussten Isabel und Griffin lachen.
«Ich habe ja eins», sagte er. «Aber leider teile ich mir das mit einer hochexplosiven Vierzehnjährigen und einer schnarchenden Dreijährigen.»
«Und ich mir meins mit meiner Schwester und meiner Cousine!»
«Ist vielleicht ganz gut so.» Er sah sie mit seinen dunklen Augen an.
«Ja», flüsterte sie. Und dann gingen sie Hand in Hand zurück.
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11. June
W ie bin ich da jetzt wieder reingeraten?
, fragte June sich insgeheim. Es war Labor Day, und es war sechs Uhr morgens. Sie saß hinter dem Steuer ihres treuen alten Subaru, der unversehens zu Marley Mathers’ Fluchtauto geworden war – für den Fall, dass sie eins brauchte. Marley saß hibbelig auf dem Beifahrersitz und starrte zu den Fenstern über dem Blumenladen hinauf, wo ihr ehemaliger Highschool-Freund und Gelegenheits-Sommerflirt lebte, ein Baseballspieler, den June als ziemlich gutaussehend in Erinnerung hatte. Die beiden hatten sich vor ein paar Wochen offensichtlich fürchterlich gestritten, Marley hatte Schluss gemacht, und Kip hatte sofort eine Neue an der Angel gehabt. Er lebte das ganze Jahr hindurch in Boothbay, trainierte die Schulauswahl und arbeitete als Sporttrainer in diversen Ferienprogrammen. Die alte Liebe war Anfang des Sommers mal wieder aufgelodert, doch Kip hatte, genau wie früher, keinerlei Interesse daran, seine Gunst auf Marley zu beschränken.
Und jetzt wollte sie ihm sagen, dass sie in der zehnten Woche von ihm schwanger war. Sechs Uhr morgens war dafür zwar kaum der ideale Zeitpunkt, aber gab es den überhaupt? Marley hatte Kip am Vorabend angerufen und gesagt, sie müsse mit ihm reden, und er hatte nur Zeit, bevor er morgens mit seinem eigenen Fitnessprogramm anfing. All das hatte Marley June am Telefon erklärt, als sie unter Tränen bei ihr anrief, um sie um Rat zu bitten. Sie wollte von ihr wissen, wie Charlies Vater damals auf die Nachricht reagiert hatte. Wie hatte June es ihm beigebracht?
Und so hatte June Marley bei einem mitternächtlichen Glas Wein im Aufenthaltsraum der Pension ihre sehr kurze Geschichte erzählt. Trotz Junes Mangel an Erfahrung in Sachen «Wie sag ich es dem Vater meines Kindes?» hatte Marley sie gebeten, mitzukommen, wenn sie mit Kip sprach, nur um da zu sein, vorher und danach. June fragte sich, wie es gewesen wäre, wenn sie John gefunden hätte, als sie merkte, dass sie schwanger war. Hätte er sie damals nach der Neuigkeit sitzengelassen, wäre sie in New York ganz allein damit gewesen, zurückgewiesen, verlassen. Sie kannte Marley Mathers zwar nicht sehr gut, aber sie würde trotzdem den Fluchtwagen für sie fahren.
«Okay!» Zum dritten Mal in fünf Minuten fasste Marley nach dem Türgriff. «Ich gehe jetzt.»
«Ich bin hier», sagte June.
Nach einer weiteren Minute stieg Marley endlich aus und ging auf die zwischen Blumenladen und Töpfergeschäft eingezwängte Haustür zu. Die Hand auf dem Türknauf drehte sie sich ein letztes Mal um, lächelte verzagt und verschwand im Hauseingang.
June hatte keine Ahnung, was Kip sagen, wie er reagieren würde, aber sie beneidete Marley um den Zugang zu ihm. Wenigstens würde Kip es wissen.
Bitte, sei begeistert!
, flehte June.
Reiß sie in deine Arme, tanz mit ihr durchs Zimmer, sag ihr, dass ihr schon immer füreinander bestimmt wart und jetzt endlich
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