Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
finden, wie sie auf ein Wort von ihm gehofft hatte. Vergeblich. Und dann war sie zufällig dazugekommen, als Jane diesen einen Satz gesagt hatte. Den vielleicht wichtigsten in ihrem Leben. Und wie mutig und unerschrocken sie ihr Herz in beide Hände genommen hatte!
Und jetzt erinnerte sie sich auch an die Szene vor zwei Tagen in Witwe Lowes Haus, der sie damals keine Bedeutung zugemessen hatte. Und die sie jetzt in einem klaren Licht sah: Jane und Mr Worth hatten zwar weit entfernt voneinander gestanden, aber sie hatten sich unverwandt angesehen, und eine ganze Welt hatte sich zwischen ihnen ausgebreitet.
»Du erachtest Mr Worth also als gering?«, fragte Victoria bedächtig. »Einen Mann, der deinen Sohn vor dem Ertrinken gerettet hat?«
Lady Wilton seufzte. »Das macht ihn noch lange nicht zu jemandem wie …«
»Wie was?«, hakte Victoria nach. »Wie Lady Jane? Wie uns?«
Wütend näherte Lady Wilton sich ihrer Tochter, packte sie am Kinn und kniff sie heftig. »Du hörst sofort auf, so schnippisch zu reden, junge Lady. So läuft es nun mal in der Welt. Und du bist langsam alt genug, das zu verstehen.«
Victoria brachte sich außer Reichweite ihrer Mutter. Dann straffte sie die Schultern, ging einige entschlossene Schritte in Richtung Treppe. Bis sie sich umdrehte und sagte: »Du hast gefragt, wie es sein kann, dass sie mit ihm verkehrt. Mama, die Antwort ist einfach.« Sie hielt inne und legte die Hand auf das Geländer. »Es liegt an der Art, wie er sie ansieht.«
Dann lief Victoria hinauf in ihr Zimmer, schloss die Tür hinter sich ab und … packte ihre Tasche.
Es sollte eine Stunde dauern, bis Lady Wilton sich wohl genug fühlte, nach dem Doktor zu schicken, um sich etwas geben zu lassen, was ihre Nerven beruhigte. Inzwischen war auch Sir Wilton nach Hause gekommen und brauchte ebenfalls etwas zur Dämpfung seiner Nervosität. Als Lady Wilton dem Arzt unter Tränen berichtete, welches Wortgefecht sie sich mit ihrer jüngsten Tochter geliefert hatte, war es der verärgerte Dr. Berridge (der sich seines schlechten Benehmens Victoria gegenüber an diesem Abend durchaus bewusst war), der dachte, es wäre wohl das Beste, nach Victoria zu sehen.
Und er war es, der entdeckte, dass sie fort war.
Jane war so sehr in ihre eigenen Gedanken vertieft, dass sie kaum wahrnahm, dass die Gäste das Haus verließen. Dem Schock ihrer Erklärung war eine überraschende Ruhe gefolgt, so als würde alle Scham und Angst und jegliche Reaktion dadurch abgemildert, dass nun die Wahrheit bekannt war und man von diesen Fakten ausgehen konnte.
Je länger sie auf Jason wartete, desto unruhiger wurde sie jedoch. Sie ging zum Schreibtisch und sah die zahlreichen Kontobücher dort aufgestapelt; ausnahmsweise war der Staub sogar abgewischt und die Arbeit getan. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl neben ihren Vater, der am Kamin Platz genommen hatte. Nancy hatte das Zimmer verlassen, um Tee zu besorgen, »Irgendetwas Beruhigendes«, hatte sie gemurmelt und Jane die Hand getätschelt.
Unwillkürlich fragte Jane sich, was ihr Vater wohl über sie dachte. Er musste enttäuscht sein. Irgendwo in seiner verloren gegangenen Welt musste er die Enttäuschung über sie fühlen. Jane erkannte es daran, dass er die Lippen zusammenpresste und sein Blick sich weigerte, sie anzusehen.
»Dein Bruder ist sehr zornig mit dir«, sagte der Duke schließlich.
»Ja«, erwiderte Jane leise.
»Nicht grundlos, nehme ich an. Ohne Grund ist er niemals so zornig. Ein wenig verärgert, ja, aber …« Er hielt inne und schaute Jane direkt in die Augen. »Du solltest auf ihn hören. Er will nur das Beste für dich.« Langsam wandte er den Blick wieder zum Feuer. »Ich kann nicht …«, sagte er, räusperte sich und fing noch einmal an. »Es tut mir leid.«
»Was tut dir leid?«, fragte Jane.
»Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass mir so etwas zustößt«, sagte er traurig.
Jane schaute auf und sah den Vater, den sie liebte – auch wenn er nicht mehr der war, den sie ihr Leben lang gekannt hatte. Er besaß nicht länger die Kraft, eine Autorität zu sein; er reichte diese Aufgabe an den Nächsten weiter, solange er dazu noch in der Lage war.
Auch sie hätte es niemals für möglich gehalten, dass ihm so etwas zustoßen könnte.
»Hör auf deinen Bruder«, wiederholte er, ergriff ihre Hand und tätschelte sie besänftigend. Unvermittelt schnitt er ein anderes Thema an. »Weißt du eigentlich, dass ich gestern eine ausgezeichnete Partie
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