Der Sommer, der nur uns gehoerte
gedacht habe. Und dass ich ihm nie mehr vertrauen kann.«
»So was geheim zu halten vor dem Menschen, den man liebt, ist vermutlich das Schlimmste an der Sache«, sagte Anika.
»Du meinst, das Schlimmste ist nicht, dass er mich betrogen hat?«
»Nein, ich meine â klar, das ist schon schlimm. Aber er hätte es dir wenigstens sagen müssen. Dass er so ein Geheimnis draus gemacht hat, das gibt der Sache erst diese Bedeutung.«
Ich schwieg. Ich selbst hatte nämlich auch ein Geheimnis. Niemandem hatte ich davon erzählt, nicht einmal Anika oder Taylor. Ich hatte mir eingeredet, das liege nur daran, dass es unwichtig sei, und dann beschlossen, nicht mehr daran zu denken.
In den letzten Jahren hatte ich manchmal irgendeine Erinnerung an Conrad hervorgeholt, hatte sie angesehen und bewundert, so wie ich mir manchmal meine alte Muschelsammlung ansah. Ich fand es schön, jede einzelne Muschel zu berühren, über ihre Rillen oder ihre kühle Glätte zu streichen. Selbst nachdem Jeremiah und ich zusammengekommen waren, kam es gelegentlich vor, wenn ich im Unterricht saà oder auf den Bus wartete oder vor dem Einschlafen, dass ich so eine alte Erinnerung hervorkramte. Daran, wie ich ihn das erste Mal beim Wettschwimmen geschlagen hatte. Daran, wie er mir Tanzen beigebracht hatte. Daran, wie er morgens seine Haare mit einem nassen Kamm kämmte, damit sie nicht abstanden.
Doch eine Erinnerung gab es, an die durfte ich nicht rühren. Die war verbotenes Gelände.
8
Es war am Tag nach Weihnachten. Meine Mutter war für eine Woche in die Türkei geflogen, nachdem sie diese Reise schon zweimal verschoben hatte â erst, als Susannah erneut Krebs bekam, dann nach Susannahs Tod. Mein Vater war in Washington, D.C., bei der Familie seiner Freundin Linda. Steven war mit ein paar Schulfreunden Ski fahren. Jeremiah und Mr. Fisher besuchten Freunde in New York.
Und ich? Ich saà zu Hause und sah mir zum dritten Mal den Film Fröhliche Weihnachten im Fernsehen an. Ich hatte den Weihnachts-Pyjama an, den Susannah mir mal vor einigen Jahren geschickt hatte â aus rotem Flanell und mit Mistelzweigen bedruckt. Die Ãrmel und die Hosenbeine waren viel zu lang, aber ich krempelte sie einfach hoch, es machte mir SpaÃ, sie so zu tragen. Ich war gerade mit essen fertig â es gab Tiefkühlpizza mit Peperoni und den Rest der selbst gebackenen Zuckerkekse, die meine Mutter von einer ihrer Studentinnen bekommen hatte.
Nach und nach kam ich mir vor wie Kevin allein zu Haus. Samstagabend, acht Uhr, und ich tanzte durchs Wohnzimmer zu Rockinâ Around the Christmas Tree. Auf einmal schwamm ich in Selbstmitleid: Meine Noten im Herbstsemester waren eher mittelmäÃig gewesen, meine komplette Familie war verreist, ich musste Tiefkühlpizza essen, dazu noch allein, und zu allem Ãberfluss hatte Steven sich über mich lustig gemacht, gleich als ich vom College nach Hause kam. »Wow, Freshman Fifteen, wie?« Mit diesem blöden Spruch hatte er mich begrüÃt. Als ich ihn dann in den Arm boxte, behauptete er zwar, er habe nur Quatsch gemacht, aber ich wusste es besser. In den vier Monaten im College hatte ich zwar nicht fünfzehn, aber immerhin zehn Pfund zugenommen. Das kommt vermutlich davon, wenn man morgens um vier mit den Jungs Hähnchenflügel oder Pizza isst. Freshman Fifteen gehörte offensichtlich zum ersten Semester dazu, da führte kein Weg dran vorbei.
Ich ging ins Bad im unteren Stockwerk und ohrfeigte mich selbst, so wie Kevin im Film. »Na und!«, brüllte ich dazu.
Ich hatte nicht vor, mich davon unterkriegen zu lassen. Auf einmal kam mir eine Idee. Ich raste nach oben und fing an, Sachen in meinen Rucksack zu werfen â den Roman, den meine Mutter mir zu Weihnachten geschenkt hatte, Leggings, dicke Socken. Wieso sollte ich allein zu Hause sitzen, wenn ich an dem Ort sein konnte, der mir lieber war als jeder andere auf der Welt?
Eine Viertelstunde später, nachdem ich noch mein Geschirr abgespült und die Lichter ausgemacht hatte, saà ich in Stevens Auto. Seins war besser als meins, und wie hieà das Sprichwort? Was ich nicht weiÃ, macht mich nicht heiÃ. Das hatte er davon, dass er mich mit Freshman Fifteen aufgezogen hatte.
Schon war ich auf dem Weg nach Cousins, rockte ab zu Please Come Home for Christmas (natürlich in der Version von Bon Jovi!) und futterte Schokobrezeln mit roten und grünen
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