Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
würde ihn wieder schlagen. Doch anscheinend hatte er sich zurückgehalten. Ich wusste, dass ich nicht eher vollständig beruhigt wäre, bis ich Simon wiedersähe, aber zu wissen, dass er nicht noch einmal in eine tätliche Auseinandersetzung mit seinem Vater geraten war, beschwichtigte meine größte Angst. Jedenfalls im Moment.
Der Nachmittag floss so zäh vorbei wie ein Gletscher. Minuten dehnten sich zu Stunden, ja, zu einer Ewigkeit. Ich lag auf dem Bett, unfähig, zu schlafen oder raus schwimmen zu gehen. Ich hörte Musik, immer wieder dieselbe CD. Es war mir egal, was im Hintergrund dudelte. Ich schrieb in mein Tagebuch, konnte mich aber nicht konzentrieren.
Draußen glitzerte das Meer, so dass es in den Augen schmerzte, spiegelnd wie Aluminiumfolie. Die Luft war elektrisch geladen wie vor einem Gewitter. Aber es kam nicht. Als es endlich vier Uhr geworden war, klopfte meine Mutter an meine Tür. »Vergiss nicht, dass wir heute Abend weg wollen«, erinnerte sie mich.
»Heute Abend?«, fragte ich. »Was ist denn heute Abend?« Dann fiel es mir wieder ein: Ein Familienessen in einem Fischrestaurant in Watermill. Ich kniff die Augen zu.
»Um sechs fahren wir los«, sagte meine Mutter.
»Ich kann nicht!«, sagte ich, setzte mich im Bett auf und fuhr mit einer Hand durch meine wirren Haare.
»Was soll das heißen, du kannst nicht?«, fragte meine Mutter mit verschränkten Armen.
»Ich muss mich mit Simon treffen.«
Mom runzelte die Stirn. »Du warst doch gestern Abend noch mit ihm zusammen, Mia. Heute Abend haben wir ein Familienessen. Das habe ich dir schon vor Tagen angekündigt.«
Ungeduldig schüttelte ich den Kopf. »Bitte, Mom! Ich muss Simon treffen. Ich kann nicht mitkommen!«
»Doch, du kannst«, entgegnete Mom und musterte mich mit ihren scharfen, porzellanblauen Augen. Dann fügte sie besorgt hinzu: »Was ist denn nur los mit dir? Du siehst sehr müde aus und hast bis ein Uhr geschlafen. Wann bist du denn ins Bett gekommen?«
»Mir geht’s gut«, antwortete ich ausweichend. »Ich möchte nur heute Abend nicht mit.«
»Vielleicht war die Aufregung in letzter Zeit ein bisschen viel für dich«, bemerkte Mom. »Ich glaube, es täte dir gut, mal früh ins Bett zu gehen.«
»Früh ins Bett«, wiederholte ich. »Gute Idee! Ich bleibe also zu Hause.«
Mom und ich starrten uns eine endlose Sekunde lang in die Augen. Ich wandte zuerst den Blick ab. Sie war mir überlegen. »Du kannst durchaus mitkommen und mit uns zu Abend essen. Wir bleiben nicht lange.«
»Mom!«, flehte ich. »Ich kann nicht. Ich muss Simon unbedingt sehen, bitte!«
»Dann lade ihn doch einfach ein.« Meine Mutter sah mich forschend und misstrauisch an, als ich mich auf meinem Bett wand. »Er kann ruhig mitkommen.«
Ihn einladen? Er hatte Hausarrest, und sein Dad verließ die Hamptons erst um sieben.
»Er kann nicht«, antwortete ich schmollend.
»Ich bin sicher, du wirst es überleben, wenn du ihn erst morgen wiedersiehst.«
Ich ließ mich aufs Bett fallen und starrte an die Decke. Ich würde also bis spätabends warten müssen, bis ich mich wegschleichen und mit Simon reden konnte. Es wurde immer schlimmer.
»Ich habe übrigens heute im Hampton Daily gelesen, dass im Drachenbau ein Feuer ausgebrochen ist«, sagte Tante Kathleen in die Runde, als wir alle auf der Veranda des Fischrestaurants bei Tisch saßen. »Offenbar war es ein Unfall.«
Mir wäre fast das Knoblauchbrot im Hals stecken geblieben, doch ich hielt den Blick fest auf die rotweiß karierte Plastiktischdecke gerichtet. Ich wusste, wenn ich aufblickte, würde mein Gesicht noch röter leuchten als der Hummer auf dem Teller meiner Tante.
»Ein Feuer? Das war ein Zeichen Gottes, kein Unfall!«, witzelte Mom.
»An dem Haus ist kein großer Schaden entstanden«, erwiderte Tante Kathleen ein wenig bedauernd. »Nur ein paar Möbelstücke haben gelitten. Ein Teenager ist eingebrochen. Er war obdachlos und wollte dort übernachten oder so ähnlich.«
»Ein Obdachloser, der in einem verlassenen Schloss übernachtet«, fiel Onkel Rufus ein. »Das gibt’s auch nur in den Hamptons.«
Ich hielt den Blick auf den Teller gerichtet und die Ohren offen, in der Hoffnung, weitere Hinweise darauf zu erhalten, was geschehen war. Ob Simon vor Gericht musste? Würde es eine Anzeige geben?
Ich spielte mit einer Hummerschere und lauschte, doch das Gespräch ging jetzt in eine andere Richtung. Noch mehrere quälende Stunden lang würde ich mich gedulden müssen, bis ich mehr
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